Ermessensausübung bei Erbringung von Sozialleistungen durch eine Bezahlkarte:
1. Bei der Wahl der Form der Leistungsgewährung (Bezahlkarte oder Geldleistung) ist eine Ermessensausübung erforderlich, bei der örtliche Besonderheiten und die individuellen Lebensumstände zu berücksichtigen sind.
2. Bei der Festsetzung der Höhe der Bargeldobergrenze einer Bezahlkarte sind die individuellen Lebensumstände und die örtlichen Gegebenheiten ebenfalls durch Ausübung von Ermessen zu berücksichtigen. Beispielsweise ist die Möglichkeit, notwendige Gebrauchsgüter gebraucht zu erwerben, um das Existenzminimum zu sichern, bei der Einschränkung der Dispositionsfreiheit zu berücksichtigen.
3. Die Aushändigung einer Bezahlkarte stellt einen Realakt, also schlichtes Verwaltungshandeln dar und enthält selbst keine abändernde Entscheidung. Zur Abänderung eines Leistungsbescheides, der auf eine Leistungsgewährung durch Geldleistung gerichtet ist, muss ein eigenständiger Verwaltungsakt (Abänderungsbescheid) ergehen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes von der Antragsgegnerin die Auszahlung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) als Geldleistungen. [...]
Mit weiterem Bescheid vom 05.12.2023 bewilligte die Antragsgegnerin der Antragstellerin laufende Leistungen nach § 3 AsylbLG ab dem 01.12.2023 bis auf weiteres, hierbei für den Monat 12/2023 410 €.
Am 10.01.2024 erließ die Antragsgegnerin einen weiteren Bescheid über die Änderung der Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG. Man habe aufgrund der Anpassung der Regelsätze zum 01.01.2024 die Leistungen neu berechnet. Die Antragstellerin habe ab dem 01.01.2024 Anspruch auf Leistungen i.H.v. 460 €. In dem Bescheid wurde wiederum (u.a.) ausgeführt, dass die Leistungen nach Abteilung 4 des Regelbedarfs (Wohnungsinstandhaltung und Energie) sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung als Sachleistung gewährt würden. [...]
Mit Schreiben vom 11.06.2024 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin darüber, dass ab 01.07.2024 eine Bezahlkarte eingeführt wird. Danach würden die ihr bewilligten Leistungen nur noch auf diese Karte überwiesen. Die Antragstellerin müsse bei ihrer Bank die Daueraufträge und Lastschriften stoppen, um Schulden bei der Bank zu verhindern. Online-Einkäufe seien mit der Bezahlkarte nicht möglich; die Karte könne aber in der Bundesrepublik Deutschland genutzt werden.
Die Antragstellerin bestätigte am 18.06.2024 den Erhalt einer Bezahlkarte sowie von Hinweisen in Deutsch und Englisch. [...] Am 08.07.2024 erhob der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin Widerspruch gegen den Verwaltungsakt zur Einführung der Bezahlkarte zum 01.07.2024.
Am 08.07.2024 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Nürnberg (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. [...]
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Der Antragstellerin steht gegenüber der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ein Anspruch auf vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG als Geldleistungen durch Überweisung auf ihr Konto bei der Sparkasse i.H.v. monatlich 460 € zu. [...]
a. Die vorstehenden Maßgaben zugrunde gelegt ist ein Anordnungsanspruch seitens der Antragstellerin glaubhaft. Ihr steht aufgrund des Bescheides der Antragsgegnerin vom 10.01.2024 auch über den 30.06.2024 hinaus mit (mindestens) überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Auszahlung von Leistungen nach dem AsylbLG i.H.v. monatlich 460 € per Überweisung auf Ihr Konto bei der Sparkasse ... zu.
aa. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin mit bestandskräftigem Bescheid vom 05.12.2023 in Fassung des ebenfalls bestandskräftigen Bescheides vom 10.01.2024 bis auf weiteres Leistungen i.H.v. monatlich 460 € als Geldleistungen bewilligt.
Die Antragstellerin ist derzeit in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.v. § 53 Asylgesetz (AsylG) untergebracht.
Nach der bis zum 15.05.2024 gültigen Fassung des § 3 Abs. 3 S. 1 AsylbLG waren bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 Abs. 1 AsylG vorbehaltlich des Satzes 3 vorrangig Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs zu gewähren. Nach Satz 2 der Vorschrift konnten, soweit es nach den Umständen erforderlich war, zur Deckung des notwendigen Bedarfs anstelle der Geldleistungen Leistungen in Form von unbaren Abrechnungen, von Wertgutscheinen oder von Sachleistungen gewährt werden. Der Bedarf für Unterkunft, Heizung und Hausrat sowie für Wohnungsinstandhaltung und Haushaltsenergie wurde, soweit notwendig und angemessen, gesondert als Geld- oder Sachleistung erbracht (Satz 3). Absatz 2 S. 3 war entsprechend anzuwenden (Satz 4). Der notwendige persönliche Bedarf war vorbehaltlich des Satzes 6 durch Geldleistungen zu decken (Satz 5). In Gemeinschaftsunterkünften im Sinne von § 53 AsylG konnte der notwendige persönliche Bedarf soweit wie möglich auch durch Sachleistungen gedeckt werden (Satz 6).
Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.12.2023 in Fassung des Bescheides vom 10.01.2024 stellt sich als Dauerverwaltungsakt dar [...], mit dem die Antragsgegnerin der Antragstellerin ab Januar 2024 (weiterhin) Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligt hat, hiervon 460 € als Geldleistungen.
Dem Verfügungssatz des Bescheids vom 10.01.2024 ist in Zusammenschau mit dem vorangegangenen Bescheid vom 05.12.2023 bei verständiger Würdigung und unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizonts unzweifelhaft zu entnehmen, dass die Leistungen ab Januar 2024 dauerhaft – d.h. unbefristet – bewilligt werden. Der Bescheid vom 05.12.2023 ist als "Bescheid über die Gewährung von laufenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)" überschrieben. Es wurden der Antragstellerin "laufende Leistungen gemäß § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) ab dem 01.12.2023 bis auf weiteres" bewilligt. Hieraus ergibt sich unzweifelhaft eine unbefristete Leistungsbewilligung [...]. Der Bescheid vom 10.01.2024 hat an der Nichtbefristung der Leistungsbewilligung nichts geändert. Vielmehr ist dem Bescheidstext zu entnehmen, dass infolge der Anpassung der Regelsätze zum 01.01.2024 lediglich eine Abänderung des vorangegangenen Bescheids bzgl. der monatlichen Leistungshöhe – für Geldleistungen – auf 460 € erfolgen sollte. [...]
Des Weiteren ist den genannten Bescheiden eindeutig zu entnehmen, dass die monatlichen Leistungen i.H.v. 460 € als Geldleistungen bewilligt werden. [...] Auch wurde in dem [...] Bescheid vom 05.12.2023 Folgendes ausgeführt: "Die Beträge für die Folgemonate werden jeweils monatlich im Voraus an die in der Anlage aufgeführten Zahlungsempfänger überwiesen, solange sich Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht geändert haben." [...]
bb. Der Bescheid vom 10.01.2024 ist von der Antragsgegnerin bislang nicht abgeändert oder gar aufgehoben worden.
Zum 16.05.2024 hat der Gesetzgeber die für die Antragstellerin einschlägige Vorschrift des § 3 Abs. 3 AsylbLG abgeändert. [...] Somit wurde für die Antragsgegnerin die rechtliche Möglichkeit geschaffen, die der Antragstellerin bisher als Geldleistungen bewilligten Leistungen nunmehr in Form der Bezahlkarte zu erbringen.
Allerdings ist eine Abänderung des bestandskräftigen Bescheides vom 10.01.2024 durch die Antragsgegnerin bislang nicht erfolgt. Zwar hat die Antragsgegnerin der Antragstellerin eine Bezahlkarte ausgehändigt. Die Aushändigung stellt sich jedoch als reiner Realakt, also als schlichtes Verwaltungshandeln dar. Auch das Schreiben der Antragsgegnerin an die Antragstellerin vom 11.06.2024 mit dem Betreff "Vollzug des Asylbewerberleistungsgesetzes Einführung Bezahlkarte" enthält aus objektiven Empfängerhorizont keine abändernde Regelung des Einzelfalls gegenüber dem vorausgegangenen Bescheid vom 10.01.2024, sondern nur allgemeine, nicht auf den konkreten Einzelfall bezogene Formulierungen. [...] Somit hat die Antragsgegner bislang einen den Bescheid vom 10.01.2024 abändernden Verwaltungsakt, insbesondere einen Änderungsbescheid nicht erlassen. Die Leistungsbewilligung vom 10.01.2024 ist infolgedessen nach wie vor bestandskräftig wirksam.
Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass die Antragsgegnerin offensichtlich auch kein Ermessen ausgeübt hat, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe sie die der Antragstellerin bislang bewilligten Leistungen i.H.v. monatlich 460 € nunmehr in Form der Bezahlkarte erbringt. Die von der Antragsgegnerin im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens behauptete Ermessensausübung – insbesondere gegenüber der Antragstellerin – ist nirgends dokumentiert. Zwischen den Beteiligten ist aber unstrittig, dass bei der Wahl der Form der Leistungsgewährung eine Ermessensausübung erforderlich ist. Diese muss allerdings unter Beachtung der die Bedarfsform betreffenden gesetzlichen Regelungen in § 3 Abs. 3 AsylbLG und bezogen auf den Einzelfall erfolgen. Die Notwendigkeit der Ermessensausübung im Einzelfall ist im Wortlaut des § 3 Abs. 3 AsylbLG angelegt und entspricht dem Willen des Gesetzgebers [...]. So wird in der Gesetzesbegründung zur Neuregelung des § 3 Abs. 3 AsylbLG ausgeführt: "Den Leistungsbehörden wird hinsichtlich der Art der Leistungserbringung ein Ermessen eingeräumt, um örtlichen Besonderheiten und unterschiedlichen Lebenslagen Rechnung tragen zu können. [...] Den Leistungsbehörden steht dadurch bei der Deckung des notwendigen Bedarfes die Form der Leistungsgewährung frei." In diesem Zusammenhang merkt das Gericht an, dass etliche der sowohl von Antragsteller- als auch von Antragsgegnerseite vorgebrachten Gesichtspunkte zur notwendigen Ermessensausübung lediglich allgemeiner Natur sind und nicht auf den vorliegenden Einzelfall bezogen. Allerdings besteht für das Gericht keine Notwendigkeit, im Einzelnen auf die Argumente einzugehen, da sie – aus den genannten Gründen – ohne Relevanz für die vorliegende Eilentscheidung sind. [...]
b. Das Gericht sieht auch das Vorliegen eines Anordnungsgrunds als glaubhaft an. Es besteht die gute Möglichkeit (überwiegende Wahrscheinlichkeit), dass der Antragstellerin im Interimszeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung eine über Randbereiche hinausgehende Rechtsverletzung, also ein wesentlicher Nachteil, droht. [...]
Die von Seiten der Antragstellerin vorgetragenen Gründe, weshalb ihr in dem Fall, dass die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, wesentliche Nachteile drohen, sind recht allgemein gehalten und nehmen nur in geringem Maß auf die konkret-individuellen Lebensumstände der Antragstellerin Bezug. Andererseits wurde der Antragstellerin im Verwaltungsverfahren bislang noch nicht die Möglichkeit gegeben, sich zu ihren individuellen Lebensumständen und eventuellen besonderen Bedürfnissen zu äußern. Auch ist der Vortrag der Antragstellerin im vorliegenden Eilverfahren, dass ihre Dispositionsfreiheit durch die seit 01.07.2024 erfolgte Leistungsgewährung in Form der Bezahlkarte eingeschränkt werde, grundsätzlich nachvollziehbar. Insbesondere im Bereich des notwendigen persönlichen Bedarfs – also dem aus den individuellen persönlichen Verhältnissen resultierenden, im besonderen Maße von den subjektiven Vorstellungen des Leistungsberechtigten geprägten Bedarf – muss im Rahmen der Leistungsgewährung dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Festsetzung der Bedarfssätze nach dem Statistikmodell gerade die Überlegung zugrunde liegt, durch die eigenverantwortliche Verwendung der pauschaliert gewährten Leistung – und zwar der zur Deckung des notwendigen persönlichen, aber auch des notwendigen Bedarfs als einheitlichem Anspruch zur Gewährleistung des verfassungsrechtlich zu sichernden Existenzminimums – einen gegenüber dem statistischen Durchschnittsbetrag höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen Bereich auszugleichen und auf diese Weise auch Ansparungen vornehmen zu können (vgl. dazu Siefert in Siefert, Asylbewerberleistungsgesetz, 2. Auflage 2020, § 3 Rn. 41 m.w.N. zur Gewährung von Sachleistungen anstelle von Geldleistungen). Infolge des durch die Leistungsgewährung in Form der Bezahlkarte bedingten Wegfalls der Möglichkeit, online-Käufe zu tätigen, sowie durch die eingeschränkte Möglichkeit von Überweisungen und Lastschriften nur nach Freigabe durch die Antragsgegnerin – auch der Kauf auf Rechnung steht unter dem Vorbehalt der Freigabe durch die Antragsgegnerin –, wird die Möglichkeit der Antragstellerin, sich die von ihr zur Sicherung des Existenzminimums als notwendig erachteten Verbrauchsgüter zu verschaffen, ohne Zweifel eingeschränkt. Insbesondere entfällt für die Antragstellerin die Möglichkeit, Gebrauchs- oder Konsumgüter im online-Handel kostengünstiger als im stationären Handel zu erwerben. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit der Barzahlung durch Festsetzung des monatlich absehbaren Barbetrags auf nunmehr 50 € ebenfalls beschränkt wird. Auch hierdurch wird die Dispositionsfreiheit der Antragstellerin eingeschränkt. Es erscheint naheliegend, dass gerade in einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen vielfältig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, benötigte Konsum-, insbesondere aber Gebrauchsgüter von privater Hand zu erwerben. Eine Kartenzahlung ist hier regelmäßig ausgeschlossen. Nicht zu bestreiten ist auch, dass im Einzelhandel nicht überall, jedenfalls nicht unterhalb eines Mindestbetrags eine Kartenzahlung mit Mastercard und damit mit der von der Antragsgegnerin zur Verfügung gestellten Bezahlkarte möglich ist. Hiervon geht auch die Antragsgegnerin aus, wenn sie in ihrem Informationsschreiben zur Einführung der Bezahlkarte vom 07.05.2024 einschränkend formuliert, dass mit der Bezahlkarte in jedem Laden gezahlt werden könne, in dem Mastercard akzeptiert werde. Auch an nicht stationären Verkaufsständen (z.B. Wurstbuden) oder bei öffentlichen Veranstaltungen ist in der Regel nach wie vor Barzahlung erforderlich. Weder aus den Akten noch aus dem Vortrag der Antragsgegnerin geht hervor, worauf die Annahme beruht, dass im Falle der Antragstellerin dennoch ein monatlicher Barbetrag i.H.v. 50 € ausreicht, um im Verbund mit der Bezahlkarte das Existenzminimum sicherzustellen. Die Antragsgegnerin trägt hierzu letztlich nur vor, dass der zur Verfügung stehende Geldbetrag, insbesondere im Hinblick auf das große Netz an Akzeptanzstellen der bayerischen Bezahlkarte, ausreichend sei. Dies genügt jedenfalls im Hinblick auf die Höhe des zugestandenen Barbetrags von 50 € – auch im Vergleich mit den ursprünglich bewilligten Geldleistungen i.H.v. monatlich 460 € – nicht, um die Möglichkeit des Eintritts wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin augenscheinlich zu verneinen.
Nach alledem gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass die gute Möglichkeit gegeben ist, dass der Antragstellerin dadurch ein wesentlicher Nachteil entstünde, wenn es für sie für einen zeitlich unbegrenzten Zeitraum nicht im ausreichenden Maße möglich wäre, durch eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln Ansparungen aus ihren Sozialleistungen vorzunehmen oder diese umzuschichten, um auf diese Weise ihr individuelles Existenzminimum insgesamt sicherzustellen. Dies wäre vor dem Hintergrund, dass es sich um Leistungen im Bereich des Existenzminimums handelt und somit Ansparungen oder Umschichtungen in größerem Umfang nicht realisierbar sind, auch nicht nachholbar. Ein Anordnungsgrund liegt somit ebenfalls vor. [....]