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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 25.04.2024 - 6 Bf 133/23 - asyl.net: M32619
https://www.asyl.net/rsdb/m32619
Leitsatz:

Familiennachzug volljähriger Kinder nach dem EU-Freizüigkeitsrecht:

"1. Familienangehörige sind gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 lit. c) FreizügG/EU u.a. die Verwandten in gerader absteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Die Unterhaltsgewährung setzt das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses voraus, das sich aus einer tatsächlichen Situation ergibt, die grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird. Der Unterhaltsbedarf muss nach der Rechtsprechung des EuGH "im Herkunfts- oder Heimatland eines solchen Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem er beantragt, dem Unionsbürger nachzuziehen".

2. Wird der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte erstmalig nach Zuzug in den Aufnahmemitgliedstaat gestellt, ohne dass im Heimat- bzw. Herkunftsland ein Visumverfahren durchgeführt bzw. die Ausstellung einer Aufenthaltskarte beantragt wurde, muss die Unterhaltsgewährung bzw. das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt bestehen, zu dem der Verwandte zu dem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nachzog, d.h. bei Ausreise aus dem Herkunfts- bzw. Heimatland und bei der in den Aufnahmemitgliedstaat erfolgenden Einreise bzw. der Niederlassung dort. Das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis im Herkunfts- oder Heimatland muss nicht (ggf. zudem) bei Antragstellung im Aufnahmemitgliedstaat gegeben sein.

3. Wird die das Abhängigkeitsverhältnis begründende finanzielle Unterstützung des freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen durch den Unionsbürger bzw. dessen Ehegattin obsolet, weil der freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige von dem ihm gemäß Art. 23 RL 2004/38/EG zustehenden Recht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, Gebrauch gemacht hat, so führt dies nicht dazu, dass dem Betroffenen hierdurch die Eigenschaft eines Familienangehörigen genommen wird. Entsprechendes gilt für die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld, das dem freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG zusteht.

4. Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU kann das Freizügigkeitsrecht nur vom Unionsbürger selbst, nicht jedoch von dessen freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen abgeleitet werden; die Möglichkeit eines "Kettennachzugsanspruchs" besteht nicht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Unionsbürger, Familienangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Familienzusammenführung, Familiennachzug, Sonstige Familienangehörige,
Normen: FreizügG/EU § 1 Abs. 2, FreizügG/EU § 3, RL 2004/38/EG Art. 23, RL 2004/38/EG Art. 24
Auszüge:

[...]

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist der Klägerin nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern auszustellen, da sie freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 2 Nr. 3 lit. c) Alt. 2 FreizügG/EU (nachfolgend 4.) des als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten spanischen Ehemannes der Mutter der Klägerin (nachfolgend 2.) ist und sie diesem i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nachgezogen ist (nachfolgend 3.). Das Freizügigkeitsrecht der Klägerin bestand bereits beim Nachzug in die Bundesrepublik Deutschland im Februar 2019, d.h. bei Ausreise aus Kolumbien sowie bei Einreise bzw. Wohnungsnahme der Klägerin im Bundesgebiet und besteht zudem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht (vgl. hierzu: nachfolgend 1.). [...]

b) Wird, wie vorliegend, der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte erstmalig nach Zuzug in den Aufnahmemitgliedstaat gestellt, ohne dass im Heimat- bzw. Herkunftsland ein Visumverfahren durchgeführt bzw. die Ausstellung einer Aufenthaltskarte beantragt wurde, muss jedenfalls die Unterhaltsgewährung bzw. das tatsächliche Abhängigkeitsverhältnis auch zu dem Zeitpunkt, zu dem der Verwandte zu dem freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger nachzog, bestehen [...]; dabei versteht das Berufungsgericht das Abhängigkeitsverhältnis beim "Nachzug" dahingehend, dass es bei Ausreise aus dem Herkunfts- bzw. Heimatland und bei der in den Aufnahmemitgliedstaat erfolgenden Einreise bzw. Niederlassung bestanden haben muss. Wäre hingegen auf den Zeitpunkt der Antragstellung im Aufnahmemitgliedstaat abzustellen, so würde der vom EuGH geprägte Maßstab, dass das Abhängigkeitsverhältnis "im Herkunfts- oder Heimatland eines solchen Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen [müsse], in dem er beantragt, dem Unionsbürger nachzuziehen", dazu führen, dass das Freizügigkeitsrecht in einer Konstellation wie der vorliegenden nie bestünde. Denn im Zeitpunkt der Antragstellung bestünde denklogisch kein Abhängigkeitsverhältnis mehr im Herkunfts- oder Heimatland, sondern allenfalls im Aufnahmemitgliedstaat. Ein derartiges punktuelles Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung würde dem Freizügigkeitsrecht des Familienangehörigen in diesen Fällen aber jede praktische Wirksamkeit nehmen und das Ziel der Richtlinie, dass das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden sollte (Erwägungsgrund 5 der RL 2004/38/EG), wesentlich beeinträchtigen. [...]

aa) Die Unterhaltsgewährung im Sinne des Freizügigkeitsrechts setzt - wie ausgeführt - das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses voraus; diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird [...]. Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger bzw. sein Ehegatte gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken [...]. Dabei reicht es aus, dass nur ein (substantieller) Teil des erforderlichen Unterhalts geleistet wird; die ergänzende Inanspruchnahme von Sozialleistungen steht dem Abhängigkeitsverhältnis nicht entgegen [...]. Zudem ist es nicht erforderlich, die Gründe für diese Abhängigkeit und damit für die Inanspruchnahme der entsprechenden Unterstützung zu ermitteln, da die Vorschriften über die zu den Grundlagen der Union gehörende Freizügigkeit der Unionsbürger, etwa die Richtlinie 2004/38/EG, weit auszulegen sind [...]. Auch setzt die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, keinen Unterhaltsanspruch voraus [...]. Der das Freizügigkeitsrecht begehrende Verwandte muss auch nicht nachweisen, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunfts- oder Heimatlandes Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten [...]. Wie lange der Zeitraum sein muss, innerhalb dessen die Unterhaltsgewährung erfolgt, um diese als "regelmäßig" bzw. über "einen beachtlichen Zeitraum" zu qualifizieren, ist nach den Umständen des Einzelfalls abhängig auch vom Maß der finanziellen Leistungen und deren voraussichtlicher Dauer zu bestimmen [...].

Auch wenn der Klägerin die Geldleistungen nicht in gleichmäßigen Abständen durch ihre Mutter zur Verfügung gestellt wurden, handelte es sich in dem genannten Zeitraum insgesamt nicht um nur sporadische, sondern um regelmäßig erbrachte Leistungen, auf die die Klägerin für ihren Lebensunterhalt angewiesen war. Sie sind über einen Zeitraum von insgesamt 16 Monaten und damit während eines beachtlichen Zeitraums erfolgt. [...]

(2) Es kann dahinstehen, ob der Fortbestand eines zuvor gegebenen materiellen Abhängigkeitsverhältnisses im Aufnahmemitgliedstaat in Fortentwickelung der Rechtsprechung des EuGH auch allein dadurch begründet werden kann, dass eine emotionale oder physische Abhängigkeit besteht. [...]