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SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 12.06.2024 - S 72 AY 113/24 ER - asyl.net: M32624
https://www.asyl.net/rsdb/m32624
Leitsatz:

Keine Leistungsbeschränkung, wenn auf den Schutz in anderem EU–Mitgliedstaat verzichtet wird:

1. § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ermöglicht eine Leistungsbeschränkung, wenn ein EU-Mitgliedstaat der in Deutschland leistungsberechtigten Person bereits internationalen Schutz zuerkannt hat. Voraussetzung für eine solche Leistungseinschränkung ist dem Wortlaut der Norm nach, dass der Schutz in dem EU-Staat fortbesteht. Wird der Schutz aufgrund einer Verzichtserklärung zurückgenommen, liegen die Voraussetzungen für eine Leistungsbeschränkung voraussichtlich nicht mehr vor. Für die grundsätzliche Möglichkeit eines Verzichts spricht § 72 Asylgesetz. 

2. Handelt es sich bei den leistungsberechtigten Personen um Geflüchtete aus der Ukraine, die in absehbarer Zeit einen Aufenthaltsstatus in Deutschland und mithin einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II erhalten werden, dürfte die Frage eines Verzichtes auf internationalen Schutz keine Rolle mehr spielen. 

(Leitsätze der Redaktion, a.A. betreffend die Möglichkeit einer Verzichtserklärung VG Regensburg, Urteil vom 24. Oktober 2023, RN 15 K 23.30798, juris) 

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, internationaler Schutz in EU-Staat, Verzichtserklärung, Rücknahme, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Leistungsbeschränkung,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 1a, AsylbLG § 1 Abs. 4, AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2 , SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller sind aufgrund ihres Asylantrags, der bislang nicht bestandskräftig abgelehnt wurde, nach § 1 Abs. 1 Nr. 1a AsylbLG leistungsberechtigt. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners scheidet damit auch der Leistungsausschluss des § 1 Abs. 4 AsylbLG aus, weil von diesem nur vollziehbar Ausreisepflichtige (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG) betroffen sind. Während des Asylverfahrens bis zu einer bestandskräftigen Ablehnung des Asylantrags liegt keine vollziehbare Ausreisepflicht vor, so dass nur eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG denkbar ist […].

Diesem Wortlaut nach liegt eine Anspruchseinschränkung nicht vor.

Den Antragstellern wurde zwar vor ihrer Einreise nach Deutschland in Tschechien internationaler Schutz gewährt, der bis zum Jahr 2025 andauern sollte. Auf diesen haben die Antragsteller jedoch verzichtet, so dass dieser internationale Schutz nicht fortbesteht, wie es § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG verlangt. Auf die Verzichtserklärung der Antragsteller haben die tschechischen Behörden die zuvor erteilten Visa zurückgenommen.

Ob ein solcher Verzicht auf einen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gewährten internationalen Schutz möglich ist mit der Folge, dass Geflüchtete sowohl das Dublin-Verfahren als auch die vom Gesetzgeber beschlossenen Leistungseinschränkungen und -ausschlüsse nach §§ 1 Abs. 4, 1a Abs. 4 AsylbLG umgehen könnten, ist fraglich (Dagegen: VG Regensburg, Urteil vom 24. Oktober 2023, RN 15 K 23.30798, juris). Für die grundsätzliche Möglichkeit eines Verzichts spricht § 72 Asylgesetz (AsylG). Ferner ist der Umstand zu berücksichtigen, dass es sich hier um aus der Ukraine Geflüchtete handelt, die in absehbarer Zeit einen Aufenthaltsstatus in Deutschland und mithin einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II erhalten werden, in dessen Rahmen die Frage eines Verzichtes auf internationalen Schutz in Tschechien keine Rolle spielen dürfte. [...]