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VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 30.07.2024 - M 19 K 21.31287 - asyl.net: M32663
https://www.asyl.net/rsdb/m32663
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende Frau im Irak

Alleinstehende Frauen im Irak, die nicht auf den Schutz eines (männlich dominierten) Familienverbandes zurückgreifen können, bilden eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und für die keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Frauen, Kurden, Yeziden, alleinstehende Frauen, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

2.2. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bilden alleinstehende Frauen im Irak, die nicht auf den Schutz eines (männlich dominierten) Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und für die keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

Das Gericht folgt insoweit der weit überwiegenden Rechtsprechung [...].

Zusammengefasst stellt sich die Lage in der Herkunftsregion der Klägerin (Dohuk), aber auch insgesamt im Irak insoweit wie folgt dar: Alleinlebende Frauen sind im gesamten Irak unüblich und beschränken sich allenfalls auf Witwen, die im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen ihr männliches Familienoberhaupt verloren haben. Diese werden jedoch üblicherweise in den verbleibenden (männlich dominierten) Familienverband (re-)integriert und auf diese Weise regelrecht beaufsichtigt; die permanente Kontrolle verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist insoweit zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Alleinlebende Frauen ohne männliche Unterstützung durch ihre Familie oder Stammesgruppen sind demgegenüber mit diskriminierenden Einstellungen der Behörden und Gesellschaft konfrontiert und einem besonders hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt. Sie befinden sich in einer verletzlichen Position in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage und es besteht die erhöhte Gefahr, Opfer von Misshandlung, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Sie werden von breiten gesellschaftlichen Schichten sozial ausgegrenzt. Ohne den Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Beziehungen lässt sich kaum eine Arbeitsstelle finden, zumal es bis heute in breiten Schichten der irakischen Gesellschaft ohnehin nicht üblich ist, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses nachgehen. Teilweise ist es den Frauen zumindest faktisch verwehrt, selbst Eigentum zu mieten. Insgesamt hat sich die Lage solcher Frauen aufgrund von Unsicherheit, hoher Kriminalität, ungenügendem Schutz durch staatliche Autoritäten, schlechter Infrastruktur sowie der zunehmenden Bedeutung strikter islamischer Werte, die oftmals von Milizen, Familien und Clans durchgesetzt werden, in den letzten Jahren generell verschlechtert. Speziell alleinstehende Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes und Clans oder Unterstützung anderer Personen und Einrichtungen sind nicht in der Lage, Zugang zu grundlegenden Ressourcen ohne diese Unterstützung zu bekommen. Von ihren Familien verstoßene Frauen ohne soziales Netzwerk zur Unterstützung sind erheblich schlechter gestellt als alleinstehende Frauen mit Unterstützung. Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, jedoch bestimmt Art. 41 der Verfassung, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Insoweit gewährt schon die Verfassungslage rigiden religiösen Vorstellungen zu Lasten von Frauen Entfaltungsspielraum. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. So kann ohne männliche Zustimmung eine Frau etwa keinen Reisepass oder Dokumente beantragen, die für die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen, Nahrungsmittelhilfe etc. erforderlich sind [...].

2.3. Die beschriebenen Verfolgungshandlungen gegenüber den Angehörigen der sozialen Gruppe sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung im Einklang mit der überwiegenden Rechtsprechung als so gravierend einzustufen, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Alleinstehende Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es erheblich erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und zu arbeiten. Für den Eintritt dieser Verletzungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die erforderliche "Verfolgungsdichte" ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Irak aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und ubiquitär. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen alleine in der Öffentlichkeit bewegen muss, um wenigstens zu versuchen, eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen. [...]