Ausnahme von der Lebensunterhaltssicherung bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte:
Von der Sicherung des Lebensunterhaltes kann beim Familiennachzug sonstiger Familienangehöriger bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte abgesehn werden.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Erteilung des beantragten Visums zur Familienzusammenführung [...].
2. Die Voraussetzungen für die Erteilung des Visums liegen vor. Der Nachzug des Klägers zu seiner in Deutschland lebenden Mutter, der als volljähriges Kind "sonstiger" Familienangehöriger ist, ist zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 AufenthG erforderlich [...].
aa. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte setzt voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Ein Angewiesensein auf familiäre Lebenshilfe kommt bei volljährigen Personen in Betracht, wenn diese aufgrund körperlicher oder geistiger Gebrechen in ihrer Autonomie als Person erheblich eingeschränkt sind. Erforderlich ist eine spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe, für die nicht jeder Betreuungsbedarf ausreicht; sie liegt nur vor, wenn geleistete Nachbarschaftshilfe oder professioneller Beistand den Bedürfnissen qualitativ nicht gerecht werden. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, spricht dies dagegen, sie auf Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweist sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. [...]
(1) Die Mutter des Klägers ist aufgrund ihrer psychischen Erkrankung pflegebedürftig und nicht dazu in der Lage, ihr Leben eigenständig zu führen. Sie leidet an einer depressiven Störung mit somatoformen Beschwerden und Schlafstörungen sowie einer chronischen paroxysmalen Hemikranie, also einem chronischen Kopfschmerz und Juckreiz. Dies entnimmt das Gericht den Arztbriefen der behandelnden Ärztin für Psychotherapie … Die behandelnde Ärztin hat als psychopathologischen Befund eine psychomotorische Verlangsamung und gedrückte Stimmungslage und wenig emotionale Schwingungsfähigkeit sowie Ein- und Durchschlafstörungen sowie beklagten Juckreiz am ganzen Körper erhoben. [...]
(a.) Eine Unterstützung durch einen professionellen Pflegedienst wird nach den besonderen Umständen im vorliegenden Fall den Bedürfnissen qualitativ nicht gerecht. Qualitativ wird die Pflege durch einen professionellen Pflegedienst den Bedürfnissen nicht gerecht, u.a. weil die Mutter des Klägers aufgrund der Kommunikationsdefizite nicht in der Lage ist, mit einem professionellen Pflegedienst und Ärzten hinreichend zu kommunizieren. [...]
(c.) Dafür, dass die Mutter aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit spezifisch auf die Hilfe des Klägers angewiesen ist, sprechen die engen familiären Bindungen des Klägers zu seinen in Deutschland lebenden Eltern, der mehrmals täglich mit ihnen telefoniert, sich aus der Ferne um sie kümmert und einen besonderen Einfluss auf seine Mutter hat, wie die Zeugenaussagen bestätigen. [...]
bb. Jedenfalls liegt ein Ausnahmefall vor, der ein Absehen von dem Regelerfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts gebietet. Von einem solchen ist bei besonderen, atypischen Umständen auszugehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder wenn höherrangiges Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug gebieten [...]. So liegt der Fall hier. Bereits die oben dargelegten Gründe, die zu der Annahme einer außergewöhnlichen Härte führen, rechtfertigen vorliegend auch die Annahme eines Ausnahmefalls mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK [...]. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass in einem Fall, in dem die in § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG mit der hohen Hürde der "außergewöhnlichen Härte" zum Ausdruck kommenden einwanderungspolitischen Belange durch Art. 6 GG zurückgedrängt werden, nicht automatisch auch eine Ausnahme von dem Regelerfordernis der Lebensunterhaltssicherung vorgezeichnet ist [...]. Allerdings sind die Umstände des vorliegenden Falles so atypisch und bedeutsam, dass sie das Gewicht des der Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zugrunde liegenden staatlichen Interesses, neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte durch Zuwanderung zu vermeiden, in der gebotenen Gesamtbetrachtung beseitigen. [...]