BlueSky

VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 24.07.2024 - 13a ZB 24.30535 - asyl.net: M32676
https://www.asyl.net/rsdb/m32676
Leitsatz:

Unzulässiger Asylfolgeantrag trotz sichtbarer Anklageschrift in e-Devlet:

1. Das Gericht kann die Tatsache, dass ein Urteil in einem Strafverfahren in der Türkei im e-Devlet nicht mit einem Sperrvermerk versehen ist, als ein Indiz dafür werten, dass das Verfahren keinen politischen Hintergrund hat bzw. dass es keinen Politmalus gibt. Das Recht auf rechtliches Gehör erfordert keinen vorherigen Hinweis des Gerichts, zu welchen Ergebnissen es bei der Würdigung der in e-Devlet zu sehenden Anklageschrift kommen wird.

2. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG n.F. ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für die asylsuchende Person günstigeren Entscheidung beitragen. Für die "erhebliche Wahrscheinlichkeit" reicht es aus, dass die neuen Elemente und Erkenntnisse für die Beurteilung der Begründetheit eines Folgeantrags relevant sind bzw. maßgeblich erscheinen und deshalb die Möglichkeit einer für die asylsuchende Person günstigeren Entscheidung besteht. Hingegen ist nicht erforderlich, dass vieles oder gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Schutzgewährung spricht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 08.02.2024 - C-216/22 - A.A. gg. Deutschland [Asylmagazin 2024, 121] - asyl.net: M32160)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Asylfolgeantrag, Wahrscheinlichkeit, rechtliches Gehör, Überraschungsentscheidung, Türkei, Kurden, Strafverfahren, e-Devlet
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1; AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 3; GG Art. 103 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 14. Mai 2024 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben. [...]

1. Der Kläger hat seinen Zulassungsantrag zum einen damit begründet, dass ihm das rechtliche Gehör versagt worden sei [...]. Noch in der Hauptverhandlung – gemeint ist die mündliche Verhandlung am 6. Mai 2024 – sei die Möglichkeit, dass das Gericht die Sichtbarkeit der Anklageschrift in e-Devlet gegen ihn werten würde, nicht ersichtlich gewesen. Im Gegensatz dazu habe das Verwaltungsgericht im Urteil die Tatsache, dass die Anklage sichtbar gewesen sei und kein Sperrvermerk vorgelegen habe, als Indiz gegen die politische Verfolgung gewertet. Hätte das Gericht auf diesen Umstand hingewiesen, hätte er vortragen können, dass nach den Erkenntnismitteln die Freigabe von Dokumenten im Ermessen des jeweils zuständigen Staatsanwalts stehe, und dass der Politmalus nicht aus dem formellen Ablauf des Strafverfahrens folge. Ferner liege eine Überraschungsentscheidung auch hinsichtlich des vermeintlich veränderten Entscheidungsmaßstabs vor. Das Verwaltungsgericht hätte darauf hinweisen müssen, dass es davon ausgehe, dass sich der Maßstab für eine positive Entscheidung geändert habe. [...]

a) Beim Urteil des Verwaltungsgerichts handelt es sich nicht um eine Überraschungsentscheidung: [...] Das Prozessgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG erforderte insbesondere keinen Hinweis des Gerichts, zu welchen konkreten Ergebnissen es bei der Würdigung der in e-Devlet zu sehenden Anklageschrift kommen wird. [...]

Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG n.F. ist bei einem Folgeantrag ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen [...]. Diese Änderung dient laut der Gesetzbegründung der Umsetzung der unionsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Folgeantrag gemäß Art. 40 der Asylverfahrensrichtlinie. [...]

Nach welchem Maßstab zu beurteilen ist, ob neue Elemente oder Erkenntnisse "erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen", ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt: Hierfür genügt es, dass die neuen Elemente und Erkenntnisse von "Relevanz" hinsichtlich der Voraussetzungen des Anspruchs auf internationalen Schutz sind bzw. für die Beurteilung der Begründetheit des Antrags "maßgeblich erscheinen" (EuGH, U.v. 8.2.2024 – C-216/22 – Asylmagazin 2024, 121 – BayVBl 2024, 300 – juris Rn. 50 f.). "Erheblich" meint mithin nur, dass die neuen Elemente oder Erkenntnisse relevant sind und die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung eröffnen. Nicht gefordert ist hingegen eine besondere Gewichtigkeit der neuen Elemente und Erkenntnisse dergestalt, dass vieles oder gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Schutzgewährung sprechen müsste (s. dazu a. Marx, AsylG, 11. Auflage 2022, § 71 Rn. 48). [...]

Soweit § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG n.F. von "erheblicher Wahrscheinlichkeit" spricht und damit an die Formulierung in Art. 40 Abs. 3 Asylverfahrensrichtlinie "die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen" anknüpft, kann der Begriff "erheblich" nicht anders verstanden werden: Für eine "erhebliche Wahrscheinlichkeit" im Sinn des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG n.F. reicht deshalb aus, dass die neuen Elemente und Erkenntnisse für die Beurteilung der Begründetheit eines Folgeantrags relevant sind bzw. maßgeblich erscheinen und deshalb die Möglichkeit einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung besteht. Hingegen ist nicht erforderlich, dass vieles oder gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine günstigere Entscheidung spricht. [...]