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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 10.09.2024 - 3 K 16/22.KS.A - asyl.net: M32709
https://www.asyl.net/rsdb/m32709
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung nach Zweitantrag wegen Verdichtung der Bedrohungslage in Iran:

1. Seit dem Tod von Mahsa Amini am 18.09.2022 kommt es in vielen Landesteilen des Iran zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Die willkürlichen Maßnahmen der Polizei und der Sicherheitskräfte wie Verhaftungen, Überwachung und Verurteilungen haben zugenommen. In Bezug auf fortgeführte (exil-)politischen Betätigungen einer asylsuchenden Person liegt daher eine veränderte Sachlage vor, bei der ein Asylzweitantrag zulässig ist.

2. Einem exilpolitisch aktiven Mitglied der Ahwaz Democratic-Popular Front (ADPF), dessen regimekritische Meinungsäußerungen und Aktivitäten öffentlich wahrnehmbar sind, drohen bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen, die an eine unterstellte regimefeindliche politische Gesinnung anknüpfen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Änderung der Sachlage, politische Verfolgung, Zweitantrag, Exilpolitik, Nachfluchtgründe, ADPF, Ahwas, Araber
Normen: AsylG § 3; AsylG § 71a; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen hieran liegt nach Auffassung der zuständigen Einzelrichterin zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine veränderte Sachlage in Bezug auf die fortgeführten (exil-)politischen Betätigungen des Klägers in Zusammenhang mit der veränderten politischen Situation im Iran vor. Aus den eingeführten Erkenntnismitteln ergibt sich eine Verdichtung der Bedrohungslage in Iran für in der politischen Opposition Aktive im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Vergleich zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamtes 2021, bei der von einer neuen Qualität bzw. einem qualitativen Sprung gesprochen werden kann. Seit dem 18.09.2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin Mahsa Amini nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Die willkürlichen Maßnahmen der Polizei und Sicherheitskräfte wie Verhaftungen, Überwachung und Verurteilung haben zugenommen. Zwar waren die vorgebrachten politischen Betätigungen des Klägers bereits Gegenstand des Asylverfahrens in Schweden. Auch das Bundesamt hat 2021 - ohne dass für die behördliche Entscheidung noch angekommen wäre - festgestellt, dass sich daraus kein Wiederaufnahmegrund i.S.d. § 51 VwVfG ergebe. Jedoch entnimmt das Gericht den eingeführten Erkenntnisquellen, dass sich inzwischen zum nach § 77 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die tatsächliche Lage im Iran derart verändert hat, dass eine (exil-)oppositionelle Betätigungen für iranische Staatsangehörige ein nicht bloß unerhebliches Gefährdungspotential birgt. [...]

Ausgehend von dieser Erkenntnislage und dem Vortrag des Klägers, ist eine veränderte Sachlage gegeben. Insoweit kommt es auf die im Verfahren vor dem Bundesamt geltend gemachte Konversion nicht mehr an. Es kann dahinstehen, ob sich hieraus ein Wiederaufnahmegrund i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ergibt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung informell, abweichend von dem im Vorfeld getätigten schriftlichen Vortrag, mitgeteilt, dass er zwar konvertiert sei und sich auch für den christlichen Glauben interessiere. Dies solle aber nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden. Der im Rahmen des § 3 AsylG geforderte identitätsstiftende Glaubenswechsel werde nicht behauptet. Wahrend diese uneingeschränkt aufrichtige Angabe die Glaubhaftigkeit seines sonstigen Vortrags unterstreicht, kann offenbleiben, ob hieraus ein Wiederaufnahmegrund oder sogar ein Fluchtgrund nach § 3 AsylG erwachst. [...]

Im Einzelfall des Klägers geht die Einzelrichterin aufgrund einer Gesamtschau seiner Aktivitäten und insbesondere deren Verbreitung in persischsprachigen Publikationen, Blogs und Auslandssendern von einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit aus.

Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Die durch den Kläger vorgetragenen flüchtlingsrelevanten Nachfluchttatbestände in Gestalt exilpolitischer Tätigkeiten sind glaubhaft. Dem Kläger droht insofern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung, da er als Mitglied der Ahwaz Democratic-Popular Front (ADPF) (spätestens) seit seiner Einreise nach Deutschland exilpolitisch tätig ist und hierbei auch öffentlich aufgetreten ist. [...]

Im Falle einer Mitgliedschaft in der ADPF lässt sich nach der Rechtsprechung zwar keine allgemeine Regel hinsichtlich der Verfolgungswahrscheinlichkeit ableiten. Gleichwohl dürfte der Grad der Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung für Mitglieder derjenigen gleichkommen, der beispielsweise für Mitglieder der PDKI, Komalah oder andere Oppositionsparteien angenommen wird [...]. Letztlich ist der Einzelfall zu würdigen [...]. Bei der ADPF handelt es sich um eine separatistische Organisation, zu deren politischen Zielen es gehört, einen föderalen und demokratischen Iran aufzubauen sowie Autonomie für die iranischen Araber zu erlangen. [...]

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass ein beachtlicher (Nach-)Fluchtgrund durch ein politisches Tätigwerden (in Deutschland) eingetreten ist. Es ist nach der Erkenntnislage wahrscheinlich, dass sein politisches Engagement für die ADPF den staatlichen Kräften im Iran bekannt geworden ist. Zunächst sieht die Einzelrichterin aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie der vorgelegten, aktuellen Bescheinigung der ADPF keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass der Kläger als Mitglied für die Partei aktiv ist. Er konnte die politischen Ziele der ADPF und ihre Rolle als Oppositionspartei in der arabischen Region im Iran sowie die damit zusammenhängenden Konflikte erklären. Zur Überzeugung des Gerichts steht auch fest, dass der Kläger als Mitglied der ADPF spätestens seit seiner Ankunft in Europa nachhaltig an Kundgebungen und Demonstrationen sowie an Veranstaltungen der Partei teilnimmt. Die Aktivitäten sind durch Bildmaterial belegt. Der Kläger hat dabei auch Protestveranstaltungen maßgeblich mit organisiert. Zudem ist der Kläger auch öffentlich, in Interviews und Veranstaltungen, für die Partei aufgetreten, die über Internetmedien verbreitet wurden und weiterhin abrufbar sind. Soweit er einräumte, wegen seiner gesundheitlichen Probleme zuletzt sein Engagement reduziert zu haben und nicht mehr so häufig an Demonstrationen teilzunehmen, trat seine Überzeugung von den verfolgten Parteizielen deutlich zu Tage. Seinen gesundheitlichen Einschränkungen zum Trotz engagiert er sich weiterhin, seiner Überzeugung folgend, in der Partei.

Dieses exilpolitische Engagement ist zur Überzeugung des Gerichts auch nicht bloß asyltaktisch motiviert. Der Kläger hält sein intensives Engagement mittlerweile seit mindestens 9 Jahren aufrecht. Die Bedeutung dessen zeigt sich des Weiteren auch darin, dass nach seinen glaubhaften Angaben bei den Demonstrationen eine Vielzahl von Personen anwesend waren. Er hat sich dabei - entsprechend seinen Fähigkeiten - auch durch seine unterstützenden Dienste eingebracht.

In der Gesamtschau ist der Kläger für die ADPF in einer Weise aktiv, die wahrgenommen werden kann. Das Gericht geht insofern davon aus, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die in Deutschland öffentlich wahrnehmbaren regimekritischen und auf die Beseitigung des Regimes im Iran gerichteten Meinungsäußerungen und Aktivitäten seitens des iranischen Staates ein Verfolgungsinteresse gegen ihn als in den Iran hineinwirkenden Regimegegner begründen. Es ist deshalb mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kläger durch seine Aktivitäten von den iranischen Behörden und der Sicherheitskräfte erkennbar und identifizierbar ist, so dass ihm bei einer Rückkehr in den Iran eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt wird und flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen dürften. [...]