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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 26.09.2024 - 1 C 11.23 - asyl.net: M32717
https://www.asyl.net/rsdb/m32717
Leitsatz:

Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten sperrt den Rückgriff auf humanitären Aufenthalt:

"1. Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU vermitteln Familienmitgliedern eines subsidiär Schutzberechtigten keinen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Wahrung des Familienverbands im Bundesgebiet (im Anschluss an BVerwG, Urteile vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 -, vom 25. November 2021 - 1 C 4.21 - und vom 15. November 2023 - 1 C 7.22 -).

2. § 36a AufenthG regelt den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich abschließend und sperrt einen Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG, wenn sich die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise allein auf bereits vor der Einreise bestehende familiäre Bindungen zu dem subsidiär Schutzberechtigten stützt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Internationaler Schutz in EU-Staat, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, subsidiärer Schutz, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Familienzusammenführung, tatsächliches Ausreisehindernis
Normen: AufenthG § 36a, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 10 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 24 Abs. 2
Auszüge:

[...]

9 Die zulässige Revision der Kläger ist unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Berufungsgericht einen Anspruch der Kläger auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verneint. Ein solcher Anspruch folgt weder unmittelbar aus Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU (1.) noch aus den §§ 27 ff. AufenthG (2.) oder aus § 25 Abs. 5 AufenthG (3.).

10 1. Den Klägern ist es verwehrt, sich unmittelbar auf Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU zu berufen (1.1). Unabhängig davon erfüllen die Kläger auch nicht deren tatbestandliche Voraussetzungen (1.2). [...]

12 [...] Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU vollständig und überschießend in nationales Recht umgesetzt. Dem diente die Neufassung des § 26 AsylG durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU [...]. Zusätzlich zu den im nationalen Recht bewährten Schutzformen des Familienasyls und des Familienflüchtlingsschutzes wurde ein gemeinsamer Status bei subsidiär Geschützten und ihren Familienangehörigen eingeführt. Dies sollte die Rechtsanwendung erleichtern und auch der Tatsache Rechnung tragen, dass bei Familienangehörigen häufig eine vergleichbare Bedrohungslage wie bei dem Stammberechtigten vorliegt [...]. § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 1 bis 3 AsylG zielte darauf ab, den Familienangehörigen eines Schutzberechtigten zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und der Wahrung des Minderjährigenschutzes die gleichen Rechte wie dem Stammberechtigter zu vermitteln. Zur Erreichung dieses Ziels beschritt der Gesetzgeber nicht den Weg einer rein aufenthalts- und sozialrechtlichen Umsetzung; stattdessen entschied er sich nicht zuletzt im Interesse einer Verfahrensvereinfachung für eine unionsrechtlich überschießende asylrechtliche Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU [...].

13 Dabei entspricht es der Intention des Gesetzgebers, hinsichtlich des Kreises der Begünstigten einer Erstreckung des internationalen Flüchtlingsschutzes, aber auch hinsichtlich der schutzberechtigten Bezugsperson an die in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU normierten Vorgaben anzuknüpfen [...]. Dies folgt auch aus der Absicht, dadurch die Gebote des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU im nationalen Recht vollständig zu erfüllen [...].

15 Etwas Anderes folgt auch nicht daraus, dass den Klägern internationaler Familienschutz nach § 26 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 und 2 AsylG möglicherweise zu Unrecht versagt worden ist. Denn die Kläger haben den ablehnenden Asylbescheid bestandskräftig werden lassen und können sich nunmehr nicht gleichsam ersatzweise unmittelbar auf Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU berufen. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob sich die Klägerin zu 1 – die Wirksamkeit dieser Ehe unterstellt – als Zweitfrau, die zudem bereits im Herkunftsland von dem subsidiär Schutzberechtigten räumlich getrennt gelebt hat, überhaupt auf § 26 Abs. 5 i. V. m. Abs. 1 AsylG hätte berufen können [...].

16 1.2 Unabhängig davon erfüllen die Kläger nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU, da sie nicht Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU sind.

17 Gemäß Art. 23 Abs. 1 RL 2011/95/EU tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. Nach Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU ist die Gewährung der in den Art. 24 ff. RL 2011/95/EU genannten Leistungen, darunter die hier streitgegenständliche Gewährung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 24 Abs. 2 RL 2011/95/EU, an drei Voraussetzungen gebunden, die sich erstens auf die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU, zweitens auf den Umstand, dass für diesen Angehörigen selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt sind und drittens auf die Vereinbarkeit mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen beziehen (EuGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - C-483/20 - Rn. 39). Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU sind die dort aufgeführten Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat.

18 Ohne dass es auf die übrigen Voraussetzungen, vor allem auf den Bestand der Familie im Herkunftsland und die Frage, ob die Klägerin zu 1 als Zweitfrau Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 1 RL 2011/95/EU unterfällt, noch ankommt, haben sich die Kläger jedenfalls nicht im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz des als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Kindsvaters im Bundesgebiet aufgehalten. Nach den für den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts sind die Kläger erst im März 2019 nach Deutschland eingereist, während dem Kindsvater bereits im Januar 2019 subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist. Zwar schließen getrennte Migrationswege es nicht aus, dass die in Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU genannten Mitglieder der Familie als Familienangehörige im Sinne dieser Norm angesehen werden können. Voraussetzung ist aber, dass sich das jeweilige Familienmitglied im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, bevor über den Antrag auf internationalen Schutz des späteren Stammberechtigten entschieden worden ist

22 3. Ohne Bundesrechtsverstoß geht das Oberverwaltungsgericht schließlich davon aus, dass es den Klägern verwehrt sei, sich hinsichtlich der begehrten Titelerteilung auf § 25 Abs. 5 AufenthG zu berufen. Die dem zugrunde liegende Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, § 36a AufenthG regele den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich abschließend und sperre einen Rückgriff auf den in Abschnitt 5 des Kapitels 2 geregelten § 25 Abs. 5 AufenthG jedenfalls dann, wenn sich die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise allein auf bereits vor der Einreise bestehende familiäre Bindungen zum subsidiär Schutzberechtigten stütze, steht mit Bundesrecht in Einklang.

23 3.1 Bereits aus dem Wortlaut des § 36a AufenthG ergeben sich Anhaltspunkte für eine solche grundsätzliche Sperrwirkung dieser Vorschrift gegenüber § 25 Abs. 5 AufenthG. So lässt § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Familiennachzug zum subsidiär Geschützten die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft nicht genügen, sondern verlangt als weitere tatbestandliche Voraussetzung das Vorliegen humanitärer Gründe, die als Regelbeispiele – nicht abschließend [...] – in seinem Absatz 2 geregelt sind und die unter anderem in dem Schutz von Ehe und Familie wurzeln. Durch die in der Norm selbst vorgenommene Verschränkung humanitärer und auf die Herstellung der Familieneinheit bezogener Aspekte (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - BVerwGE 171, 103 Rn. 47) konkurriert § 36a AufenthG mit den Vorschriften in Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes, die den Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen regeln. Dies spricht dafür, dass § 36a AufenthG jedenfalls dann in einem Spezialitätsverhältnis zu § 25 Abs. 5 AufenthG steht, wenn die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise auf die gleichen Gründe wie bei § 36a AufenthG, nämlich auf bereits vor Einreise bestehende familiäre Belange, gestützt wird.

24 Für das vorstehende Verständnis streiten auch gesetzessystematische Erwägungen: So bleiben nach der ausdrücklichen Regelung in § 36a Abs. 1 Satz 4 AufenthG neben § 36a Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG lediglich die §§ 22, 23 AufenthG und damit nur zwei Vorschriften aus dem Abschnitt 5 des Kapitels 2 unberührt. Auch enthält § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG eine Kontingentierung, nach der monatlich 1 000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG erteilt werden können. Hinsichtlich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sieht § 36a AufenthG teilweise strengere Regelungen im Vergleich nicht nur zu § 25 Abs. 5 AufenthG, sondern auch zu den §§ 27 ff. AufenthG vor. Denn nach § 36a Abs. 5 AufenthG gilt § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, wonach von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden kann, und anders als bei § 25 Abs. 5 AufenthG, bei dem nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen werden kann, nicht. Zudem ist die Frist des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG nicht anwendbar, da humanitäre Gründe nicht an eine Frist gebunden werden können [...]. Des Weiteren hat der Gesetzgeber für die Umsetzung dieser Regelung ein aufwendiges und kostenintensives Kontingentverfahren unter Einbeziehung auch des Bundesverwaltungsamtes [...] neu geschaffen. In der Gesetzesbegründung wird sowohl für den Ehegattennachzug als auch für den Elternnachzug und den Nachzug minderjähriger lediger Kinder zum subsidiär Schutzberechtigten betont, dass allein oder ausschließlich § 36a AufenthG maßgeblich ist [...]. Lediglich aus dringenden humanitären Gründen kann darüber hinaus im Einzelfall auch Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22 Satz 1 AufenthG erteilt werden, wenn die Aufnahme sich aufgrund des Gebotes der Menschlichkeit aufdrängt und die Situation ein Eingreifen zwingend erforderlich macht oder bei Bundes- oder Landesprogrammen gemäß § 23 AufenthG (BT-Drs. 19/2438 S. 22).

25 Dem steht nicht entgegen, dass § 36a AufenthG und auch die §§ 22, 23 AufenthG den Zuzug von Familienangehörigen aus dem Ausland regeln, während § 25 Abs. 5 AufenthG einen bestehenden Aufenthalt in Deutschland und eine vollziehbare Ausreisepflicht voraussetzt. Denn dies ändert nichts daran, dass mit § 36a AufenthG eine eigene komplexe Regelung mit einem neu entwickelten Verfahren und einer monatlichen Kontingentierung geschaffen worden ist, die familiäre und humanitäre Belange der Kernfamilienangehörigen zum subsidiär Schutzberechtigten unter den dort geregelten Voraussetzungen und in Härtefällen ergänzend über die §§ 22, 23 AufenthG berücksichtigt [...]. Vom Inland aus besteht für Familienmitglieder von international Schutzberechtigten zudem nach § 26 AsylG die Möglichkeit, über die Gewährung internationalen Familienschutzes eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG zu erlangen. Dieser gesetzgeberischen Gesamtkonzeption liefe es zuwider, über eine Anwendbarkeit des § 25 Abs. 5 i. V. m. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG einen weiteren Weg der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Ausreise, gestützt allein auf bereits vor Einreise bestehende familiäre Bindungen zu einem subsidiär Schutzberechtigten, zu eröffnen, bei dem durch unerlaubte Einreise ohne Visum und auch unabhängig von einer Asylantragstellung unter den dort geregelten erleichterten Voraussetzungen die in § 36a AufenthG normierten Anforderungen und das monatliche Kontingent umgangen werden können. [...]