Unzureichende diplomatische Zusicherung bzgl. IS-Mitglied
1. Einem wegen der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der terroristischen Vereinigung Islamischer Staat verurteilten Straftäter droht in Tadschikistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung, sodass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.
2. Im konkreten Fall vermag die diplomatische Zusicherung der tadschikischen Generalstaatsanwaltschaft die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. Dies liegt zum einen daran, dass die Zusicherung der tadschikischen Generalstaatsanwaltschaft andere Sicherheitsbehörden, insbesondere das Innenministerium und den dort unterstellten Geheimdienst nicht bindet. Zum anderen genügt die Zusicherung auch inhaltlich nicht den Anforderungen, wie sie vom EGMR, dem Bundesverfassungsgerichts und im konkreten Fall dem Auswärtigen Amt aufgestellt wurden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
II. Bei zusammenfassender Würdigung der durch die ausgewerteten Erkenntnisquellen vermittelten Umstände besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger bei einer – hypothetischen – Abschiebung nach Tadschikistan dort Folter sowie eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. [...]
Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger bei einer Rückführung als wegen der mitgliedschaftlichen Beteiligung an der terroristischen Vereinigung Islamischer Staat verurteilter Straftäter von den tadschikischen Sicherheitsbehörden identifiziert werden wird. Aufgrund der Verbalnote vom ... ist den tadschikischen Sicherheitsbehörden sowohl die Identität des Klägers als auch der Gegenstand seiner Verurteilung bekannt. Ebenfalls lässt sich für die tadschikischen Behörden aus der Höhe der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten auch abschätzen, von welchem Gewicht die begangene Straftat ist. [...]
Die dem Kläger konkret drohenden Haftbedingungen erfordern jedoch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach den zuvor geschilderten Berichten sind die Haftbedingungen gerade für politisch missliebige Personen besonders hart. Folter kommt insbesondere in den ersten Monaten der Haft vor. Zudem droht dem Kläger bei Zugrundelegung dieser Berichte selbst ein "Verschwindenlassen", etwa durch eine gewaltsame Tötung während der Haft, oder auf andere Weise, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. [...]
Diese Prognose ändert sich auch nicht aufgrund der von der Beklagten zum Verfahren gereichten Zusicherung der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Tadschikistan vom .... [...]
Welche konkreten Anforderungen an eine solche Zusicherung zu stellen sind, lässt sich nicht abstrakt beantworten, sondern hängt insbesondere von den Bedingungen im Abschiebezielstaat und dem konkreten Inhalt der Zusicherung ab. Wie die Zusicherung auszulegen ist und ob sie jeweils bestehenden Bedenken Rechnung trägt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles festzustellen. Es ist anhand dieser Maßstäbe zu prüfen, ob die Zusicherung die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK und Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz – GG – wirksam ausschließt und insbesondere den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Anforderungen entspricht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24. Juli 2017– 2 BvR 1487/17 –, juris Rn. 49).
Dabei berücksichtigt der EGMR u. a. die Gesichtspunkte, ob der Wortlaut der Zusagen mitgeteilt wurde, ob die Zusagen genau oder allgemein und vage sind, wer die Zusagen gegeben hat und ob diese Person das Bestimmungsland verpflichten kann, ob, wenn die Zusagen von der Zentralregierung des Bestimmungslands gemacht worden sind, erwartet werden kann, dass die örtlichen Behörden sie einhalten, ob die Zusagen eine Behandlung betreffen, die im Bestimmungsland rechtmäßig oder unrechtmäßig ist, ob die Zusagen von einem Konventionsstaat gemacht wurden, den Gesichtspunkt der Dauer und Bedeutung der bilateralen Beziehungen zwischen dem abschiebenden Staat und dem Bestimmungsland und ob dieses Land bisher ähnliche Zusagen eingehalten hat, des Weiteren, ob die Einhaltung der Zusagen auf diplomatischem Wege oder über andere Bewachungsmechanismen objektiv geprüft werden kann, einschließlich des unverzüglichen Zugangs zu einem Anwalt, ob es ein wirksames Schutzsystem gegen Folter in dem Bestimmungsland gibt und ob der Staat bereit ist, mit internationalen Überwachungsorganen einschließlich internationaler Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten, bei Foltervorwürfen zu ermitteln und die Verantwortlichen zu bestrafen, ob der Betroffene früher im Bestimmungsland misshandelt wurde und ob die Verlässlichkeit der Zusagen von den Gerichten des abschiebenden Konventionsstaates geprüft wurde (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 – Nr. 8139/09, Othman/Vereinigtes Königreich – NVwZ 2013, 487 Rn. 188 f. m. w. N.). [...]
Es ist jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit erkennbar, dass eine von der Generalstaatsanwaltschaft abgegebene Erklärung sämtliche Sicherheitsbehörden der Republik Tadschikistan einschließlich sämtlicher an der Strafverfolgung und -vollstreckung beteiligten Stellen wirksam verpflichtet.
Die für eine Inhaftierung und Vernehmung des Klägers in Betracht kommenden Sicherheitsbehörden sind u.a. das Innenministerium (MWD), die Polizei (Miliz) und das Staatliche Komitee für nationale Sicherheit (GKNB). Formal sind diese Behörden organisatorisch getrennt, wobei auch die Zuständigkeiten nicht immer klar abgegrenzt sind. Das GKNB hat die Funktionen eines Inlands- und Auslandsnachrichtendienstes sowie die Zuständigkeit des Grenzschutzes inne und wird in politisch sensiblen Fällen neben der Antikorruptionsbehörde tätig. Da das GKNB jedoch über eine eigene Strafverfolgungskompetenz verfügt, gibt es eine Überlappung von Polizei- und Nachrichtendiensttätigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tadschikistan, Stand November 2023, S. 7 f.).
So mag die Generalstaatsanwaltschaft die Polizeibehörden wirksam binden können. In Bezug auf das Innenministerium erscheint dies jedoch bereits nicht zweifelsfrei und ist insbesondere in Bezug auf das GKNB nicht erkennbar. Gerade vor dem Hintergrund der Verurteilung als islamistischer Extremist ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger vom für politische Fälle zuständigen GKNB festgenommen, befragt und inhaftiert wird. Auf die Geheimdienste – wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert – erstreckt sich die Zusicherung aber gerade nicht ausdrücklich.
Zudem bleibt die Zusicherung auch inhaltlich sowohl hinter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Bundesverfassungsgericht formulierten inhaltlichen Anforderungen als auch hinter dem durch das Auswärtige Amt mit dessen Verbalnote vom ... – erkennbar unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung – erbetenen Gehalt zurück.
Es wird lediglich in allgemein gehaltener Form garantiert, dass u.a. der Kläger nicht gefoltert wird und keiner grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen wird.
Hinsichtlich der geforderten spezifischen Garantien hat die Zusicherung allerdings kein ausreichendes Gewicht. Ihr Inhalt genügt den vorstehend dargelegten Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht.
So wird zwar ausgeführt, dass der Kläger nach seinem Transfer nach Tadschikistan mit allen Schutzrechten ("with all protection rights") ausgestattet werde. Um welche Schutzrechte oder Garantien es sich hierbei handeln soll, wird nicht weiter ausgeführt. Es folgen allgemeine Wiedergaben der Gesetzeslage zur Aussetzung der Todesstrafe in Tadschikistan (vgl. zur Aussetzung der Todesstrafe insoweit auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tadschikistan, Stand November 2023, S. 18).
Die Erklärung enthält keine ausdrücklichen Garantien für die Behandlung während der zu erwartenden Inhaftierung des Klägers. Es finden sich – obwohl vom Auswärtigen Amt in dessen Verbalnote erbeten – keine Zusicherungen zu menschenwürdigen Haftbedingungen. Auch eine – ebenfalls ausdrücklich erbetene – objektive Überprüfung der Haftbedingungen durch deutsche Beamte oder Nichtregierungsorganisationen enthält die Zusicherung nicht. Gerade vor dem Hintergrund der berichteten Vorfälle von Folter und willkürlichem Verschwindenlassen während der Untersuchungshaft und bei späterer Strafhaft wäre eine solche Garantie jedoch unerlässlich gewesen.
Im Hinblick auf das Recht einer jederzeitigen Konsultation eines Rechtsanwalts bleibt die Zusicherung hinter den an sie zu stellenden Anforderungen zurück. Zwar wird in der Erklärung grundsätzlich das Recht auf einen Anwalt genannt ("will be granted with all protection rights, as well as lawyer"). In welchen Verfahrensstadien und in welcher konkreten Ausgestaltung dieses Recht dem Kläger gewährt werden soll, wird nicht konkretisiert. Es fehlt insbesondere eine Zusage dergestalt, dass Anwälte auch während einer Inhaftierung jederzeit Zugang zum Kläger haben. Das Recht ungehinderte Verteidigerkonsultation erscheint vor dem Hintergrund der Erkenntnislage zur Republik Tadschikistan unwahrscheinlich. In politisch heiklen Fällen ist effektiver Rechtsschutz nicht gegeben, da die verteidigenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Gefahr laufen, unter Vorwänden selbst der Strafverfolgung unterzogen zu werden. Rechtsanwälte sind wegen der ihnen selbst drohenden Gefahren immer weniger bereit, politisch heikle Fälle – zu denen auch der Fall des Klägers zu zählen ist – zu übernehmen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tadschikistan, Stand November 2023, S. 7, 12; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Tadschikistan, Gesamtaktualisierung am 8. August 2022, S. 11).
Schließlich fehlt es an einer Garantieerklärung, dass die Einhaltung der Zusagen auf diplomatischem Wege oder über andere Mechanismen objektiv geprüft werden kann. Diesem Umstand ist auch deshalb erhebliche Bedeutung beizumessen, weil eine solche Garantieerklärung mit der Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom ... unter Ziffer 4. ausdrücklich erbeten worden war. Sie ist nicht mit hinreichender Vertrauenswürdigkeit in der Formulierung "The Tajik side guarantees that after the final decision on the cases is made, the Federal Republic of Germany side will be provided with additional information." zu erblicken. Diese Formulierung lässt offen, welche Verfahren gemeint sein sollen, nach deren bestandskräftigem Abschluss weitere Informationen geteilt werden. Jedenfalls aber fehlt es an der Zusicherung eines objektiven Kontrollmechanismus, da nicht hinreichend deutlich wird, welche Information und von wem geteilt werden. [...]