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VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 02.07.2024 - W 3 K 22.30534 - asyl.net: M32756
https://www.asyl.net/rsdb/m32756
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Frau aus dem Volk der Tigray:

1. Frauen und Mädchen aus dem Volk der Tigray im Norden Äthiopiens sind als soziale Gruppe von sexualisierter Gewalt bedroht, die ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat. Die sexuellen Übergriffe auf Frauen und Mädchen erfolgen, weil sie weiblich sind.

2. Eine inländische Fluchtalternative in Äthiopien ist zwar erreichbar, einer Frau mit kleinen Kindern und ohne soziales Netzwerk jedoch nicht zumutbar. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Äthiopien, Tigray, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juli 2022, da sich der angegriffene Bescheid als rechtswidrig erweist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, soweit mit dem Bescheid der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wurde (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). [...]

Bei einer Rückkehr nach Äthiopien droht der Klägerin nach der Überzeugung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...]

Ausgehend davon stellen Frauen, die dem Volk der Trigray zugehörig sind, eine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar, denen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe eine Verfolgung in Form sexueller Übergriffe droht.

Die Erkenntnisquellen berichten von sexualisierten Gewalttaten in der Region Tigray. Insbesondere im Zuge des Konflikts in Tigray, der in der Nacht vom 3. November auf dem 4. November 2020 begann, kam es häufig zu sexueller Gewalt gegenüber Frauen. Darüber hinaus wird davon berichtet, dass es in dem Regionalstaat Tigray auch nach dem im November 2022 geschlossenen Abkommen zur Beilegung der Feindseligkeiten gegenüber Frauen und Mädchen zu sexueller Gewalt mit der Folge von ungewollten Schwangerschaften und HIV-Infektionen durch militärische und paramilitärische Gruppen gekommen ist [...]. Ebenso geht aus den Erkenntnismitteln hervor, dass die Konflikte im Norden Äthiopiens trotz des geschlossenen Friedensabkommens weiter anhalten und es in diesem Zusammenhang immer wieder zu Vergewaltigungen und sexueller Gewalt insbesondere gegenüber Frauen und Mädchen aus dem Volk der Tigray kommt, die ein alarmierendes Ausmaß erreicht haben [...].

Die sexuellen Übergriffe auf Frauen und Mädchen erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie weiblich sind. Diese Übergriffe betreffen damit unverhältnismäßig oft Frauen, womit geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d) der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der Richtlinie 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht der Einzelrichterin nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) der Richtlinie 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen, die in der Region Tigray leben im Gegensatz zu Männern sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, entsprechend dem oben ausgeführten als soziale Gruppe mit abgrenzbarer Identität angesehen werden.

Der Klägerin droht nach alldem bei einer Rückkehr in die Region Tigray mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form von sexualisierter Gewalt.

Die Klägerin hat darüber hinaus nicht die Möglichkeit, sich dieser sexualisierten Gewalt zu entziehen, indem sie sich in einem anderen Teil des Landes niederlässt. Eine Möglichkeit internen Schutzes besteht für die Klägerin und ihre Familie, die in die Beurteilung mit einzubeziehen ist, nicht. [...]

Anhaltspunkte dafür, dass für Frauen wegen ihrer Geschlechterzugehörigkeit in ganz Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Vergewaltigung oder sexualisierter Gewalt besteht, liegen keine vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln geht zwar hervor, dass Frauen, die dem Volk der Tigray angehören, im Norden Äthiopiens von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Dies beschränkt sich jedoch nur auf den Norden des Landes, insbesondere den Regionalstaat Tigray. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frauen aus dem Volk der Tigray in anderen Landesgebieten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Vergewaltigungen oder sexualisierter Gewalt droht.

Dennoch ist es der Klägerin nicht zumutbar, sich in einem anderen Landesteil wie beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba niederzulassen und dort eine neue Existenz aufzubauen. [...]

Zwar verfügt die junge und arbeitsfähige Klägerin über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Krankenschwestern und konnte in diesem Beruf bereits vor ihrer Ausreise aus Äthiopien Berufserfahrung sammeln. Dennoch wird es ihr aufgrund der erforderlichen Betreuung der ihrer beiden sich noch im Kleinkindalter befindenden Kinder ohne den Rückgriff auf ein soziales Netzwerk nicht möglich sein, ihren Lebensunterhalt zu sichern und zeitgleich die für die Kinder erforderliche Betreuung sicherzustellen.

Insgesamt kann daher von der Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass diese sich in einer größeren Stadt oder einem anderen Ort außerhalb ihrer Ursprungsregion niederlässt und ohne familiären Rückhalt ihre Existenz sichert. [...]