Einstufung als "Sicherer Drittstaat" erfodert keine Rückübernahmebereitschaft:
Die Einstufung eines Staates als "sicherer Drittstaat" im Sinne des Artikel 38 der Richtlinie 2013/32/EU ist auch dann möglich, wenn der betreffende Staat die Rückübernahme von asylsuchenden Personen allgemein ausgesetzt hat. Dies folgt u.a. daraus, dass Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32/EU für diesen Fall regelt, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht erlaubt ist und ein Asylverfahren ohne Verzögerung durchgeführt werden muss.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
46 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 38 der Richtlinie 2013/32 die Gültigkeit des Rechtsakts mit allgemeiner Geltung, mit dem ein Mitgliedstaat einen Drittstaat als im Allgemeinen sicher bestimmt, nicht von der Voraussetzung abhängig macht, dass erwiesen ist, dass die betreffenden Personen, die internationalen Schutz beantragen, tatsächlich in das Hoheitsgebiet dieses Drittstaats übernommen oder rückübernommen werden.
47 Zum einen gehören nämlich die erwiesene Übernahme oder Rückübernahme dieser Antragsteller in den Drittstaat nicht zu den in Art. 38 Abs. 2 dieser Richtlinie aufgezählten Regeln, von denen die Anwendung des Konzepts des "sicheren Drittstaats" in den Mitgliedstaaten abhängt. Zum anderen ergibt sich implizit aus Art. 38 Abs. 4 dieser Richtlinie, der klarstellt, dass dann, wenn "der [betreffende sichere]
Drittstaat dem Antragsteller nicht [erlaubt], in sein Hoheitsgebiet einzureisen, … die Mitgliedstaaten sicherstellen [müssen], dass im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II [der Richtlinie 2013/32] Zugang zu einem Verfahren gewährt wird", dass die Einstufung eines solchen Drittstaats als "sicherer Drittstaat" damit vereinbar ist, dass sich dieser Staat weigert, Personen, die internationalen Schutz beantragen, in sein Hoheitsgebiet zu übernehmen oder rückzuübernehmen
48 Mithin ergibt sich aus der letztgenannten Bestimmung, dass ein Mitgliedstaat, wenn er durch einen Rechtsakt mit allgemeiner Geltung einen Drittstaat als im Allgemeinen sicher bestimmt hat, obwohl dieser für Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Möglichkeit zur Einreise in sein Hoheitsgebiet ausgesetzt hat, jedem der betroffenen Antragsteller das Recht zu gewährleisten hat, ein Verfahren zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz einzuleiten. [...]
51 Demnach macht Art. 35 der Richtlinie 2013/32 im Unterschied zu dem, was sich aus Art. 38 Abs. 4 dieser Richtlinie zum Konzept des "sicheren Drittstaats" ergibt, die Anwendung des Konzepts des "ersten Asylstaats" in den Mitgliedstaaten von der Voraussetzung abhängig, dass der Antragsteller von dem so eingestuften Staat tatsächlich wieder aufgenommen wird. [...]
53 Wie in Rn. 48 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ergibt sich nämlich aus Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32, dass die Aussetzung der Übernahme oder der Rückübernahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats, der von einem Mitgliedstaat als im Allgemeinen sicher bestimmt wurde, zur Folge hat, dass dieser Mitgliedstaat sicherstellen muss, dass für diese Antragsteller die Möglichkeit besteht, im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach den Art. 6 bis 30 der Richtlinie 2013/32, die in deren Kapitel II enthalten sind, ein Verfahren einzuleiten.
54 Hieraus folgt, dass ein Mitgliedstaat in dem Fall, dass ein von ihm als im Allgemeinen sicher bestimmter Drittstaat nachweislich die betreffenden Personen, die internationalen Schutz beantragen, tatsächlich nicht übernimmt oder nicht rückübernimmt, deren Anträge auf internationalen Schutz nicht auf der Grundlage von Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 als unzulässig ablehnen kann. Zudem darf dieser Mitgliedstaat die Prüfung solcher Anträge nicht ohne Grund aufschieben und muss insbesondere sicherstellen, dass diese Prüfung gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie einzeln und innerhalb der in ihrem Art. 31 genannten Fristen erfolgt.
55 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kann die in Rn. 52 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 38 der Richtlinie 2013/32 auch nicht dem in Art. 18 der Charta verankerten und durch diese Richtlinie konkretisierten Recht der Person, die internationalen Schutz beantragt, auf Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz die praktische Wirksamkeit nehmen, wenn die vom Unionsrecht verlangten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Februar 2024, Bundesrepublik Deutschland [Zulässigkeit eines Folgeantrags], C-216/22, EU:C:2024:122, Rn. 39).
56 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 38 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 18 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der ein Drittstaat für bestimmte Gruppen von Personen, die internationalen Schutz beantragen, als im Allgemeinen sicher bestimmt wird, obwohl dieser Drittstaat trotz seiner rechtlichen Verpflichtung die Übernahme oder Rückübernahme dieser Antragsteller in sein Hoheitsgebiet allgemein und ohne dass eine gegenläufige Entwicklung absehbar wäre ausgesetzt hat. [...]