Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte:
Das Ermessen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufentG ist auf Null reduziert, wenn zwischen einer Großmutter und ihrer deutschen Enkeltochter ein im Sinne des Art. 6 GG schützenswertes Verhältnis besteht, weil die deutsche Enkeltochter aufrund ihrer schweren Erkrankung auf den Beistand ihrer Großmutter angewiesen ist. Weder die fehlende Lebensunterhaltssicherung, fehlende Sprachkenntnisse oder die Einreise ohne Visum stehen in Anbetracht der vorliegenden außergewöhnlichen Härte der Erteilung entgegen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Klage ist mit dem aufrecht erhaltenen Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. September 2019 zu verpflichten, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, zulässig und begründet. [...]
Die Klägerin hat im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts [...] im Hinblick auf die Beziehung zu ihrer Enkeltochter … einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG. [...]
1. Die besonderen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG liegen vor. Die Klägerin ist als Großmutter von ... sonstige Familienangehörige einer Deutschen im Sinne von § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG; die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist auch zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich. [...]
Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann [...].
Intensive Familienbindungen treten nicht nur im Verhältnis zwischen heranwachsenden Kindern und Eltern auf, sondern sind auch zwischen Mitgliedern der Generationen-Großfamilie möglich. Bestehen zwischen nahen Verwandten tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindungen, sind diese vom Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst [...]
Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf, an, ob die Beistandsgemeinschaft als Hausgemeinschaft gelebt wird oder ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann [...]
b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist in dem vorliegenden besonderen Einzelfall die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin im Hinblick auf die Betreuung ihrer Enkeltochter ... zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich. ... kann ein eigenständiges Leben nicht führen, sondern ist dringend auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe durch die Klägerin angewiesen, die in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann.
Die 13-jährige ... kann ein eigenständiges Leben nicht führen, sondern ist dringend auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen. Ausweislich des Feststellungsbescheids der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration vom 16. August 2019 ist sie aufgrund ihrer geistigen Behinderung mit einem Grad der Behinderung von 80 schwerbehindert und erfüllt die Vqraussetzungen für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale "erhebliche Gehbehinderung", "Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson" und "Hilflosigkeit". Nach den überzeugenden Schilderungen der Lerntherapeutin ... und der Sonderpädagogin ... in der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts sowie den schriftlich vorliegenden Stellungnahmen der Ärzte und Therapeuten benötigt sie aufgrund ihrer Erkrankungen in besonderer Weise emotionale Sicherheit und psychische Unterstützung [...].
Diese familiäre Lebenshilfe für ... leistet zu einem wesentlichen Teil die Klägerin. Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass die Klägerin im Alltag die ... umsorgende Hauptbezugsperson ist, obwohl die Kindesmutter in demselben Haushalt lebt und auch zu dem in Hamburg lebenden Kindesvater Kontakt besteht. [...] Diese Beschreibung des besonderen Verhältnisses zwischen der Klägerin und ihrer Enkeltochter hält das Berufungsgericht für glaubhaft. Zudem ist das Berufungsgericht davon überzeugt, dass die Klägerin im Alltag zuverlässig für ihre Enkeltochter sorgt. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des von der Beklagten angeführten Umstands, dass sich aus den Abrechnungen der Brutto-Netto-Bezüge der Klägerin beim Medizinischen Dienst … für die Monate April und Mai 2024 ergibt, dass sie Nachtzuschläge erhalten hat, was im Widerspruch zu ihrer Angabe in der mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts steht, sie arbeite immer nur morgens. Vor dem Hintergrund, dass die Nachtzuschläge in nur sehr begrenztem Umfang gezahlt wurden (für vier Stunden im April 2024 sowie für 13 Stunden im Mai 2024), vermag dies die verlässliche Präsenz der Klägerin im außerschulischen Alltag ... nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Zudem haben die Zeuginnen die verlässliche Präsenz der Klägerin betont. So hat die Zeugin … die besondere Bedeutung der Klägerin für … damit begründet, dass sie präsent und die große Konstante in Leben sei. Die Klägerin begleite sie seit ihrem ersten Lebensjahr. Die Zeugin hat geschildert, sie habe ... auch zu Hause gefördert und festgestellt, dass die Klägerin die erste Ansprechpartnerin ... und der beiden Geschwisterkinder sei. Sie sei täglich präsent und gebe ... emotionale Zuwendung, was für sie sehr wichtig sei. Sie sei diejenige, die sie umarme, zu der sie Beziehung habe. Zudem sei die Klägerin für sie identitätsbildend; sie sei als jemand, der an sie glaube, für ihre Entwicklung zur eigenen Persönlichkeit besonders wichtig. Auch nach der Schilderung der Zeugin ... stehe die Klägerin in besonderem Maße für die Kontinuität, die ... benötige. Die Mutter könne dies nach ihrem Eindruck nicht im gleichen Maße gewährleisten. In ihrem Schreiben vom … 2023 hat sie die Klägerin als äußerst wichtige Bezugsperson bezeichnet, die einen großen Beitrag zur emotionalen Stabilität sowie zur Entwicklung der lebenspraktischen Selbständigkeit leiste.
Zur Überzeugung des Berufungsgerichts hätte es für ... gravierende Auswirkungen, wenn die Klägerin nicht mehr konstant in der Familie wäre. Dann bestände nach der überzeugenden Einschätzung der Lerntherapeutin ... die Gefahr einer Traumatisierung und einer Schädigung ... Es wäre ein emotionaler Bruch, der ihre Entwicklung gefährden würde. Die Mutter und der Vater … könnten dies nicht ausreichend emotional auffangen. Die Sonderpädagogin … geht hiermit übereinstimmend ebenfalls davon aus, dass die Abwesenheit der Klägerin ein emotionaler "Schock" für ... wäre, der ihre positive emotionale und kognitive Entwicklung in hohem Maße beeinträchtigen würde. Sie würde emotional "flattern". Mit dem Verlust der Klägerin als wichtiger Bezugsperson würde ihr im Alltag der Boden unter den Füßen weggezogen werden. [...]
Demgegenüber fällt nicht ausschlaggebend ins Gewicht, dass die Klägerin bisher nicht über nennenswerte Deutschkenntnisse verfügt. Diese wären zwar ohne Zweifel nicht nur von Vorteil für die Unterstützung ... im schulischen Bereich sowie beim Aufbauen sozialer Kontakte, sondern auch von erheblicher Bedeutung für die Integration der Klägerin selbst in die hiesigen Lebensverhältnisse. Auch ohne die deutschen Sprachkenntnisse kann die Klägerin ihrer Enkeltochter jedoch derzeit die familiäre Lebenshilfe leisten, auf die diese dringend angewiesen ist. Die beiden kommunizieren auf Spanisch miteinander.[...]
2. Die allgemeinen Voraussetzungen nach § 27 AufenthG für eine Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach §§ 28 Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 2 AufenthG erfüllt die Klägerin. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG stehen - soweit sie nicht erfüllt sind - der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. [...]
Hier ergibt der Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den nachhaltig zur Verfügung stehenden Mitteln, dass eine positive Prognose dahingehend, dass der Lebensunterhalt der Klägerin in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist, nicht gestellt werden kann. [...]
bb) Hier ist jedoch ein Ausnahmefall von der Regel-Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 5 Abs. 1 .Nr. 1 AufenthG anzunehmen.
Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug geboten ist, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist [...]. Dies ist hier der Fall, da nach den obigen Ausführungen im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Zudem ist zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigten, dass sie berufstätig ist und ihren Lebensunterhalt jedenfalls anteilig sichern kann. [...]
Der Enkeltochter der Klägerin ist aufgrund ihrer besonderen Situation auch eine vorübergehende Trennung von der Klägerin für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten nicht zumutbar, da sie zwar bereits 13 Jahre alt ist, aber aufgrund ihrer geistigen Behinderung die Trennung von der Klägerin, auf deren Lebenshilfe sie dringend angewiesen ist, nicht als nur vorübergehend einordnen könnte. [...]
3. Das der Beklagten gemäß § 28 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite eröffnete Ermessen ("kann") ist dahingehend auf null reduziert, dass allein die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig ist. [...]
Im Rahmen des Ermessens sind die widerstreitenden Interessen zu gewichten, die für und gegen eine Aufenthaltserlaubnis wegen einer außergewöhnlichen Härte sprechen [...]. Da diese Abwägung bereits im Rahmen der Prüfung der außergewöhnlichen Härte vorgenommen wurde, wird damit auch die behördliche Ermessensentscheidung indiziert [...]. Hier wäre jede andere Entscheidung als die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ermessensfehlerhaft. […]