Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für homosexuellen Mann:
Bei einer Rückkehr nach Russland ist, unabhängig von einer Vorverfolgung, im Falle einer gleichgeschlechtlichen Eheschließung in Deutschland von einer Verfolgungsgefahr auszugehen. Asylrechtlich relevante Verfolgung wegen Homosexualität geht in Russland nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren aus. Homophobie ist in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. 42% der Bevölkerung sprechen sich für die Strafbarkeit von Homosexualität aus.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach diesen Maßstäben besteht für den Kläger ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, weil er einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der Homosexuellen angehört und darüber hinaus nicht nur wegen dieser Eigenschaft, sondern ganz konkret auch wegen der inzwischen in Deutschland vollzogenen Heirat mit seinem Partner bei einer Rückkehr in die Russische Föderation asylrechtlich relevanter Verfolgung und Repression ausgesetzt wäre. Homosexuelle Menschen in der Russischen Föderation stellen eine soziale Gruppe dar. Die vorliegenden Erkenntnismittel bestätigen übereinstimmend, dass erhebliche Teile der Bevölkerung der russischen Föderation Vorbehalte gegenüber Homosexuellen haben [...]. Eine Umfrage im April 2019 in 50 Regionen der Russischen Föderation hat ergeben, dass lediglich 3 % der Bevölkerung eine positive Einstellung zu Homosexuellen haben, während 39 % neutral und 56 % negativ gegenüber Homosexuellen eingestellt seien. 43 % der Befragten lehnen eine Gleichstellung Homosexueller mit anderen Bürgern ab [...]. Einflussreiche Organisationen wie die russisch-orthodoxe Kirche treten gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ein. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet von verbreiteter Homophobie in der russischen Bevölkerung, von LGBT-feindlicher Rhetorik in den Medien und von der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch die zunehmend einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche. Amnesty International bestätigt ebenfalls, dass homophobe Ansichten in der russischen Gesellschaft weit verbreitet seien, und weist auf die Volksabstimmung vom 1. Juli 2020 zur Verfassungsänderung hin, mit der festgelegt worden sei, dass der Staat die Ehe als "Verbindung aus Mann und Frau" zu schützen habe [...]. Auch wenn Homosexualität als solche in der Russischen Föderation nicht strafbar ist, tragen seitens des Staates weitere legislative und administrative Maßnahmen, insbesondere das "Gesetz zum Verbot von Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen" vom 30. Juni 2013 (Propagandaverbotsgesetz) dazu bei, dass bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung starke Vorbehalte gegenüber Homosexuellen anzutreffen sind. Dieses Gesetz wird Umfragen zufolge von 88 % der Bevölkerung befürwortet. 42 % der Bevölkerung sprechen sich sogar für die Strafbarkeit von Homosexualität als solcher aus. Damit betrachtet die Gesellschaft in der Russischen Föderation Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als andersartig mit der Folge, dass sie als bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind [...]. Der Kläger wäre zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters außerdem asylrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt, die nicht notwendig vom russischen Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen wird, ohne dass der russische Staat willens wäre, hiergegen einzuschreiten. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine Vorverfolgung des Klägers bis zu seiner Ausreise anzunehmen ist (wozu der erkennende Richter eher neigt); im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nach der Heirat des Partners wären der Kläger und sein Partner jedenfalls asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Es darf auch nicht unterstellt werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Russland seine sexuelle Orientierung geheim halten müsste. Asylrechtlicher Schutz darf niemandem unter Verweis auf die Möglichkeit vorenthalten werden, beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung zurückhaltend zu sein oder seine homosexuelle Orientierung im Herkunftsstaat geheim zu halten [...].
Es ist damit zu rechnen, dass die dem Kläger drohenden Repressalien eine viel stärkere Intensität erreichen werden als vor der Flucht, wenn der Kläger offen seine gleichgeschlechtliche Ehe in der Russischen Föderation ausüben würde. Hinzu kommt, dass die bestehende Rechtslage nochmals verschärft wurde mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Verbot von LGBT-Propaganda vom 24. November 2022. Im November 2023 stufte der Oberste Gerichtshof in der Russischen Föderation die internationale LGBT-Bewegung als extremistisch ein und verbot ihre Aktivitäten [...]. Somit können nun Menschen wegen Unterstützung von LGBT-Anliegen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Im Januar 2024 verhängten zwei russische Gerichte die ersten Urteile im Zusammenhang mit der von den russischen Behörden im Oktober 2023 als extremistische Organisation eingestufte internationalen LGBT-Bewegung [...].
Neben den staatlichen Repressionen drohen dem Kläger auch Repressionen durch nichtstaatliche Akteure, gegen die der russische Staat nicht einschreitet, sondern diese im Gegenteil gutheißt und fördert. [...]