Schutzgewährung für bei der UNRWA registrierte Personen aus dem Gazastreifen nach dem Überfall der Hamas auf Israel
1. Bei UNRWA registrierten Staatenlosen palästinensischer Herkunft aus dem Gazastreifen ist die Flüchtlingseigenschaft ipso facto nach § 3 Abs. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) zuzuerkennen (Rn. 30).
2. Der Schutz oder Beistand von UNRWA für Staatenlose palästinensischer Herkunft im Gazastreifen wird im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (juris: AsylVfG 1992) nicht länger gewährt (Rn. 42).
(Amtliche Leitsätze; mit umfangreichen Ausführungen zur humanitären Lage in Gaza)
[...]
20I. [...] Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 3 AsylG, weshalb der Bescheid des Bundesamtes vom 04.07.2022, soweit er angefochten wurde, rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt [...].
28 Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Wird der Schutz oder Beistand nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG die Absätze 1 und 2 anwendbar. [...]
30 Die Anwendung des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, der an Satz 1 Nr. 1 der Vorschrift anknüpft und mit diesem eine Einheit bildet, setzt nicht die Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale (§ 3 Abs. 1 AsylG) voraus; er enthält vielmehr eine gegenüber § 3 Abs. 1 AsylG selbstständige Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft. Liegen die Voraussetzungen dieser Regelung vor, ist einem Antragsteller auf seinen Antrag "ipso facto" die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass dieser nachweisen muss, dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung hat [...]. Insoweit beinhaltet der Verweis von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG auf § 3 Abs. 1 und 2 AsylG lediglich eine Rechtsfolgenverweisung [...].
31 a) Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG (sogenannte "Ausschlussklausel"), da er in der Vergangenheit Schutz und Beistand von UNRWA genoss.
32 Dafür ist maßgebend, ob der Betroffene der Personengruppe angehört, deren Betreuung UNRWA entsprechend seinem Mandat übernommen hat. Das ist jedenfalls bei denjenigen Personen der Fall, die als Palästinaflüchtlinge bei UNRWA (weiterhin) registriert sind. Von der Ausschlussklausel sind indes nur diejenigen Personen erfasst, die die Hilfe von UNRWA tatsächlich in Anspruch nehmen. Die betreffenden Bestimmungen sind eng auszulegen und erfassen daher nicht auch Personen, die lediglich berechtigt sind oder waren, den Schutz oder Beistand dieses Hilfswerks in Anspruch zu nehmen, ohne jedoch von diesem Recht Gebrauch zu machen. Als ausreichender Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistands ist die Registrierung bei UNRWA anzusehen. Der Grund für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling liegt nicht nur bei Personen vor, die zurzeit den Beistand von UNRWA genießen, sondern auch bei solchen, die diesen Beistand kurz vor Einreichung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat tatsächlich in Anspruch genommen haben [...].
33 Der Kläger hat eine "Family Registration Card" von UNRWA vom 15.12.2011, ein Schreiben von UNRWA vom 14.01.2020 und ein "Family Record" von UNRWA vom 21.03.2021 vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass der Kläger in Deir El-Balah im Gazastreifen bei UNRWA registriert ist und damit also den Schutz oder Beistand von UNRWA genossen hat. Außerdem hat er sich nach seinen eigenen Angaben vor seiner Ausreise im Gazastreifen und damit im Einsatzgebiet von UNRWA aufgehalten.
34 b) Auch die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (sogenannte "Einschlussklausel") liegen im Fall des Klägers vor.
35 Die Lage der Personen, die den Schutz oder Beistand von UNRWA genießen, ist bislang nicht endgültig geklärt [...].
36 Eine bloße Abwesenheit von diesem Gebiet oder die freiwillige Entscheidung, es zu verlassen, kann nicht als Wegfall des Schutzes oder Beistands von UNRWA eingestuft werden [...]. Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird aber im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand von UNRWA nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass sich der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, aus irgendeinem Grund unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe von UNRWA im Einklang stehen, so dass sich dieser Staatenlose aufgrund von Umständen, die von ihm nicht zu kontrollieren und von seinem Willen unabhängig sind, gezwungen sieht, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen [...].
38 Der von einer Organisation oder einer Institution wie dem UNRWA geleistete Schutz oder Beistand kann nicht nur durch die Auflösung dieser Organisation oder Institution selbst wegfallen, sondern auch dadurch, dass es dieser Organisation oder Institution unmöglich ist, ihre Aufgabe zu erfüllen [...].
39 Bei der Beurteilung der Frage, ob der Schutz und Beistand von UNRWA nicht länger gewährt wird, ist in räumlicher Hinsicht auf das Operationsgebiet des Einsatzgebiets von UNRWA abzustellen, in dem der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte [...].
42 Nach diesen Maßstäben wird der Schutz oder Beistand von UNRWA für Staatenlose palästinensischer Herkunft im Gazastreifen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt. Sowohl die Lebensbedingungen im Gazastreifen als auch die Fähigkeit von UNRWA, seine Aufgabe zu erfüllen, haben sich aufgrund der Folgen der Ereignisse des 07.10.2023 in noch nie dagewesener Weise verschlechtert [...].
65 cc) Diese Kriegssituation führt dazu, das UNRWA seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann und für die bei ihm registrierten palästinensischen Flüchtlingen keine menschenwürdigen Lebensbedingungen sicherstellen kann. [...]