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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 16.09.2024 - 1 K 1819/23.KS.A - asyl.net: M32802
https://www.asyl.net/rsdb/m32802
Leitsatz:

Verweigerung der Ausstellung von Personenstands- und Reisedokumenten stellt Verfolgungshandlung dar: 

1. Ehemalige Einwohner der Region Bergkarabach sind zwar ethnische Armenier, jedoch nicht armenische Staatsangehörige. Die Region unterliegt der militärischen Kontrolle durch aserbaidschanische Streitkräfte. Als Herkunftsland (bei ungeklärter Staatsangehörigkeit) ist auf Aserbaidschan abzustellen, da die Region Bergkarabach unter der Kontrolle Aserbaidschans steht. 

2. Ethnische Armenier haben in Aserbaidschan fortlaufend systematische Diskriminierung zu befürchten. Unabhängig von der Beurteilung des Fortbestandes einer Gruppenverfolgung ethnischer Armenier begründet bereits die Verweigerung der Ausstellung von Personenstands- und Reisedokumenten an ethnische Armenier aserbaidschanischer Herkunft eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Sie haben Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Berg-Karabach, Armenien, Aserbaidschan, Diskriminierung, Armenier, Bergkarabach,
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Grundsätzen halten sich die Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftslandes auf, § 3 Abs. 1 AsylG.

Das Herkunftsland der Kläger ist Aserbaidschan. Zunächst ist die Staatsangehörigkeit der Kläger nicht abschließend zu klären.

Als ehemalige Einwohner der Region Bergkarabach sind die Kläger zwar ethnische Armenier, jedoch nicht armenische Staatsangehörige. Zwar haben die Einwohner Bergkarabachs in der Vergangenheit stets armenische Pässe ausgestellt bekommen, dies jedoch nach Angaben der armenischen Regierung lediglich zur Ermöglichung von Auslandsreisen und ohne jede Anerkennung der Staatsangehörigkeit [...]. Die Ausstellung der Reisepässe unter diesem Vorbehalt wurde durch die Kennzeichnung der Dokumente mit der Kennziffer "070" zum Ausdruck gebracht, die auf Pässen formell staatsangehöriger Armenier nicht zu finden ist [...]. Erst im Zuge der weitestgehenden Vertreibung der ethnischen Armenier aus Bergkarabach und deren Flucht nach Armenien wurde die breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass dieser Gruppe keine staatsbürgerlichen Rechte in Armenien zuerkannt würden. Vielmehr wurde ihnen nach der Flucht auf unumstrittenes armenisches Hoheitsgebiet seitens der armenischen Regierung angeboten, sich um den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit zu bewerben. Die Staatsangehörigkeit kann jedoch erst dann das asylrechtliche Herkunftsland bestimmen, wenn der Betroffene von einer Option, die Staatsangehörigkeit anzunehmen, tatsächlich Gebrauch gemacht hat [...]. Die Kläger haben überzeugend geschildert, sowohl in Armenien als auch bei der armenischen Botschaft in Berlin um die Staatsbürgerschaft ersucht zu haben, jedoch abgewiesen worden zu sein.

Die Kläger hatten derweil auch nie aserbaidschanische Papiere oder sonstigen Kontakt mit aserbaidschanischen Behörden, sodass eine dortig anerkannte Staatsangehörigkeit ebenfalls nicht unterstellt werden kann.

Für de-jure staatenlose Schutzsuchende muss hinsichtlich der Bestimmung des für die Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Herkunftslandes auf das Land abgestellt werden, in welchem sie ihren vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Ein gewöhnlicher Aufenthalt setzt dabei voraus, dass der Betroffene im jeweiligen Land nicht nur vorübergehend verweilt, sondern seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt gefunden hatte [...].

Ein solcher Aufenthalt wurde im Fall der Kläger jedenfalls nicht in Armenien begründet. Dort hielten sie sich lediglich für etwa ein Jahr auf, ohne eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und nur um festzustellen, dass keine realistische Option auf eine dauerhafte Niederlassung für sie besteht.

Ist danach für den letzten gewöhnlichen Aufenthalt auf die Heimatregion der Kläger Bergkarabach abzustellen, ergibt sich als Herkunftsland in diesem Sinne allein Aserbaidschan. Wenngleich die völkerrechtliche Zuordnung der Region naturgemäß nicht einhellig beurteilt wird, geht das Gericht für die hier entscheidende asylrechtliche Dimension von einer Zugehörigkeit zu Aserbaidschan aus. Dabei muss es schließlich darauf ankommen, der Jurisdiktion welches Staates die Kläger im Falle der Rückkehr in das Gebiet unterfielen.

Die Region Bergkarabach lag schon zu Zeiten der Sowjetunion als autonome Oblast gleichsam einer Enklave innerhalb der aserbaidschanischen Sowjetrepublik. Trotz zwischenzeitlicher de-facto-Unabhängigkeit, teils unter der Bezeichnung "Republik Arzach" blieb der völkerrechtliche Status der ganz überwiegend von ethnischen Armeniern besiedelten Region bis in die Gegenwart unklar. Sie war stets eng mit Armenien verstrickt und von diesem abhängig, obwohl sie auch weiterhin von aserbaidschanischem Staatsgebiet umgeben blieb. Geografisch am nächsten kommen sich die Territorialgrenzen von Armenien und Bergkarabach im äußersten Südwesten der Region, wo eine Fernstraße über aserbaidschanisches Hoheitsgebiet die beiden Gebiete verbindet. Dieser sogenannte "Lachin-Korridor" diente zuletzt im September 2023 quasi der gesamten Bevölkerung Bergkarabachs zur Flucht nach Armenien, als aserbaidschanische Truppen das Gebiet dauerhaft besetzten und Armenien den Verzicht auf territoriale Ansprüche hinsichtlich Bergkarabachs erklärte [...]. Bergkarabach gilt Stand heute als faktisch entvölkert und bleibt unter der militärischen Kontrolle aserbaidschanischer Streitkräfte, Landminen und Sprengfallen machen die Region für Zivilisten nahezu unbewohnbar. Die ehemaligen Bewohner weilen überwiegend in Armenien, jedoch mittlerweile auch in mitteleuropäischen Ländern.

In Aserbaidschan – dessen Kontrolle sie an ihrem letzten gewöhnlichen Aufenthalt unterfielen – droht den Klägern Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG.

Ethnische Armenier haben in Aserbaidschan fortlaufend systematische Diskriminierung zu befürchten.

In der Rechtsprechung der letzten 30 Jahren wurde anhaltend eine Gruppenverfolgung ethnischer Armenier in Aserbaidschan diskutiert, vor allem bis etwa in das Jahr 2000 flächendeckend angenommen und mittlerweile eher abgelehnt. Wiederkehrend dokumentierte Vorgehensweisen aserbaidschanischer Behörden und ethnischer Aserbaidschaner gegen Angehörige der Minderheit erstreckten sich von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft und Wiedereinreise [...].

Wenngleich eine pauschale Gruppenverfolgung nunmehr mit Verweis auf Berichte über sinkende Zwischenfälle nicht mehr durchgehend angenommen wird, ist doch zu bedenken, dass sich gegenwärtig nur noch wenige Armenier in Aserbaidschan aufhalten und sich das Lagebild vielmehr aus diesem Grund beruhigen mag. Zudem zeichnet auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes weiterhin ein Bild der Ausgrenzung und Rechtsverweigerung:

"Es ist für Personen mit armenischer Volkszugehörigkeit auch aktuell noch äußerst schwierig, aserbaidschanische Dokumente zu erhalten. Oftmals werden Anfragen seitens der Behörden ignoriert oder an andere Stellen verwiesen." (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Aserbaidschan, Stand: Juni 2021, S. 11)

Unabhängig vom Fortbestand einer Gruppenverfolgung, welcher hier dahinstehen kann, begründet nach der Auffassung des Einzelrichters bereits die Verweigerung der Ausstellung von Personenstands- und Reisedokumenten an ethnische Armenier aserbaidschanischer Herkunft eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Dass diese Verweigerung tatsächlich stattfindet und auch die Kläger betrifft, steht zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit fest. Schließlich blickt die Diskriminierung der Armenier in Aserbaidschan auf eine jahrzehntelange Tradition zurück und ist vielfach dokumentiert. Es ist demgegenüber nicht ersichtlich, weshalb im Falle der Kläger andersherum eine Ausnahme zu ihren Gunsten eintreten sollte. Bezeichnenderweise haben die Kläger zudem davon berichtet, bei dem Versuch der Beschaffung von Dokumenten durch armenische Behörden gerade an die Zuständigkeit aserbaidschanischer Stellen verwiesen worden zu sein. Sie haben damit dargelegt, als ehemalige Bewohner Bergkarabachs von keinem der beiden Anrainerstaaten aufgenommen und anerkannt zu werden, sondern vielmehr unter den schwerwiegenden Folgen der beidseitigen Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte zu leiden. Ausgeschlossen von den Rechten der Staatsbürger in einem Land ihrer Herkunftsregion bliebe den Klägern die Teilhabe an der Daseinsvorsorge ebenso vorenthalten wie die Befriedigung elementarer persönlicher, wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse. Es stellt sich nach alldem als beachtlich wahrscheinlich dar, dass die Kläger im Falle der Rückkehr in ihr Herkunftsland lediglich eine verschwindend geringe Chance auf Obdach, Erwerbstätigkeit, Gesundheitsversorgung und Sicherheit vor staatlicher und nichtstaatlicher Willkür genießen könnten. [...]