Zweitantrag zulässig trotz fehlendem Hinweis im Asylverfahren auf Homosexualtität:
Der Zweitantrag ist nicht präkludiert, wenn eine Person aus Unwissenheit, Scham und Angst im litauischen Asylverfahren seine Homosexualität nicht offenbaren konnte.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Daran gemessen hat der Kläger in Form seiner Homosexualität einen Umstand vorgetragen, der bereits vor Abschluss des Asylverfahrens in Litauen existierte, aber von ihm dort nicht geltend gemacht worden ist. [...]
Nach diesen Maßgaben sind die Ausführungen des Klägers schlüssig und nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, jedenfalls zur Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG zu verhelfen.
Der Kläger hat plausibel dargelegt, dass er tatsächlich homosexuell ist und dies auch auslebt. Beim Bundesamt machte er bereits zahlreiche Angaben zu seiner homosexuellen Identitätsfindung und der Entwicklung seiner sexuellen Orientierung. So konnte er seine ersten beiden sexuellen Beziehungen unter Angabe der damit einhergehenden Komplikationen und seine Gefühlslage schildern. Im Einzelnen führte er aus, dass er im Alter von 15 Jahren festgestellt habe, dass er eine Zuneigung zu Männern verspüre. In der Schule habe er eine ca. vierjährige Liebesbeziehung mit einem zwei Jahre älteren Mann namens ... gehabt, mit dem er sich regelmäßig unter dem Vorwand, gemeinsam lernen zu wollen, zum Geschlechtsverkehr getroffen habe. Anschließend habe er eine ebenfalls heimliche, ca. zweijährige Sexbeziehung mit einem wesentlich älteren Fahrradladeninhaber namens ... gehabt, der sich jedoch anschließend von ihm getrennt habe. Außerdem habe er über Facebook nach einem neuen männlichen Partner gesucht, sei jedoch teilweise aus Mangel an Vertrauen und zum Teil aufgrund zu großer Entfernung keine weitere Beziehung eingegangen. Des Weiteren hat der Kläger durch Bildmaterial und Chatauszüge unterlegte Angaben zu einer nach seiner Ankunft in Deutschland geführten sexuellen Beziehung mit einem Mann namens ... gemacht und aufgezeigt, wie er seine Homosexualität durch den Besuch von Clubs und Bars für Homosexuelle in Deutschland auslebt.
Zudem sprechen die dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel [...] dafür, dass homosexuelle Männer im Irak einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehören und jedenfalls von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG landesweit verfolgt werden, ohne dass die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure willens oder in der Lage wären, ihnen Schutz vor Verfolgung gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten [...].
Mit seinem Vorbringen ist der Kläger auch nicht gemäß § 71a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 2 VwVfG präkludiert. [...]
Unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs hat der Kläger hinreichend dargelegt, dass er in Litauen aus Angst, Unwissenheit und Scham und damit ohne grobes Verschulden daran gehindert war, seine Einwände vorzubringen. Hierzu hat er in seiner Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am ... Dezember 2022 im Einzelnen angegeben, dass sich der Aufenthalt in dem Flüchtlingslager in Litauen wie ein Gefängnisaufenthalt angefühlt habe, die Versorgung sehr schlecht gewesen sei, er menschenunwürdige Behandlung erfahren habe, er im Rahmen der Asylanhörung nicht hinreichend rechtliches Gehör erhalten habe und aufgrund dieser Umstände an psychischen Problemen gelitten habe. Ergänzend hat er in seiner Anhörung am April 2024 angegeben, dass er Angst gehabt habe, in Litauen vorzutragen, dass er homosexuell sei. Im Irak sei er damit aufgewachsen, dass Homosexualität verboten sei und gesellschaftlich geächtet und sogar mit dem Tod bestraft werde. Er sei davon ausgegangen, dass Homosexualität auch in Europa nicht erlaubt sei. Erst in Deutschland habe er im Laufe der Zeit realisiert, dass Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert werde und er nicht befürchten müsse, diese zu offenbaren. [...]