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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.08.2023 - 12 K 48/23 A - asyl.net: M32834
https://www.asyl.net/rsdb/m32834
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz bei zwangsweiser Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg: 

1. Jungen Männern im diensttauglichen Alter droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einziehung zum Grundwehrdienst und Entsendung in den Ukrainekrieg. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Rekrutierungs- und Einziehungsbemühungen und -methoden erheblich verschärft haben. 

2. Auch die unfreiwillige Entsendung in den Ukraine-Krieg ist beachtlich wahrscheinlich. Grundsätzlich ist es möglich, Wehrdienstleistende nicht erst nach Abschluss ihres Wehrdienstes nach den vorgesehenen 12 Monaten, sondern bereits nach einer viermonatigen Militärgrundausbildung auch zu Kampfeinsätzen im Ausland zu entsenden. Unausgebildet können Wehrdienstleistende zu Kampfeinsätzen im Inland herangezogen  und damit auch in die völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Gebiete entsandt werden. 

(Leitsätze der Redaktion; das Urteil wurde aufgehoben durch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.08.2024 – 12 B 18/23 – asyl.net: M32833)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenen, Militärdienst, Ukraine, Zwangsrekrutierung, Grundwehrdienst, Angriffskrieg
Normen: AsylG § 4 Abs. 1
Auszüge:

[...]

I. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. [...]

2. Nach diesen Maßstäben ist der Einzelrichter nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass dem gesunden Kläger, der im Zeitpunkt der maßgeblichen gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) 25 alt ist, im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Es liegen stichhaltige Gründe vor, wonach ihm bei einer Abschiebung in die Russische Föderation die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung und ein ernsthafter Schaden droht, da er als Grundwehrdienstpflichtiger anzusehen ist [...]

Der Kläger hat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Einziehung zum Grundwehrdienst in den russischen Streitkräften (dazu a) und die Entsendung zu Kampfhandlungen in die Ukraine (dazu b) zu befürchten, woraus sich wegen der hieraus resultierenden zwangsweisen Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und Gefahr für Leib und Leben eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ergibt [...].

a) Die Verpflichtung zum allgemeinen Wehrdienst in der Russischen Föderation trifft nach dem Föderalen Gesetz Nr. 53-FZ über die Wehrpflicht und den Militärdienst vom 28. März 1998 und der Verordnung über die Wehrerfassung vom 27. November 2006 (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Fassung vom 20. Juli 2020) grundsätzlich unterschiedslos alle Männer im Alter zwischen 18 bis 27 Jahren [...], die russische Staatsbürger sind und sich in der Russischen Föderation dauerhaft aufhalten bzw. dort gemeldet sind [...].

Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit spricht auch nicht der Umstand, dass bisher jährlich lediglich etwa ein Drittel der Männer im wehrpflichtigen Alter tatsächlich einberufen wurde [...]. Die Zahlen haben sich zwar durch den Beginn des Ukraine-Krieges zunächst nicht verändert. [...] Eine bloße mathematisch-schematische Betrachtung wird aber den Anforderungen an die vom Gericht anzustellende qualifizierende Würdigung der Gesamtumstände nicht gerecht. Darüber hinaus ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht davon auszugehen, dass den Zahlen der vergangenen Einberufungskampagnen noch dieselbe Aussagekraft für die kommenden Kampagnen beigemessen werden kann, wie dies bislang der Fall war. Vielmehr ist davon auszugehen, dass nunmehr umfangreicher rekrutiert wird. Dies ergibt sich zum einen durch den aufgrund des Angriffskriegs gegen die Ukraine und der personellen Verluste in der Ukraine entstandenen erhöhten Personalbedarf. Weiterhin stehen den russischen Streitkräften zahlreiche Männer im wehrpflichtigen Alter, etwa wegen Flucht ins Ausland oder mutwilliger Selbstverletzung zur Erreichung einer Wehruntauglichkeit [...] nicht mehr zur Verfügung. [...] Angesichts der drohenden Gefahr erzwungener oder zumindest unter Druck stattfindender Vertragsabschlüsse gerade bei Wehrpflichtigen hat dies nur geringfügige Bedeutung [...]. Zudem liegen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nunmehr Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass Wehrdienstentziehungen konsequenter verfolgt werden als dies noch bis zum Frühjahr 2022 der Fall war [...]. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich die Rekrutierungs- und Einziehungsbemühungen und -methoden der russischen Behörden gegenüber Grundwehrdienstpflichtigen seit der Einberufungskampagne im Herbst 2022 erheblich verschärft haben [...].

b) Die unfreiwillige Entsendung des Klägers in den Ukraine-Krieg ist beachtlich wahrscheinlich. Diese Gefahr ist noch als mit der Rückkehr im Zusammenhang stehend anzusehen, auch wenn eine Entsendung in die Kriegsgebiete ggf. nicht sofort, sondern je nach Entwicklung der allgemeinen und individuellen Situation auch erst nach Ableistung einer Grundausbildung für Grundwehrdienstleistende erfolgen kann [...].

Die Situation für Grundwehrdienstleistende in der Russischen Föderation im Zusammenhang mit den im entscheidungserheblichen Zeitpunkt zu beobachtenden politischen Entwicklungen und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt sich nach Auswertung der Erkenntnismittel wie folgt dar: Amtliche Stellen haben wiederholt öffentlich erklärt, dass Wehrdienstleistende nicht zu den "Hotspots" der "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine entsendet würden, darunter Präsident Putin am 8. März 2022 und der russische Verteidigungsminister Schoigu am 9. März 2022 [...]. Auch erläuterte der russische Verteidigungsminister am 21. September 2022, dass Wehrpflichtige nicht von den Maßnahmen der (Teil-)Mobilmachung betroffen seien [...]. Gleichwohl kam es zu – demnach fehlerhaften – Entsendungen von Wehrdienstleistenden zu Beginn des Krieges und weiterer hunderter Wehrdienstleistender im Sommer 2022 zu Kämpfen in die Ukraine. [...] Grundsätzlich ist es auch nach russischem Recht weiterhin unzulässig, Grundwehrdienstleistende in Krisen- oder Kriegsgebiete zu entsenden. Auf der Grundlage einer präsidialen Anordnung vom 16. September 1999, zuletzt geändert am 4. Oktober 2022, ist es aber möglich, Wehrdienstleistende nicht erst nach Abschluss ihres Wehrdienstes nach den vorgesehenen 12 Monaten, sondern bereits nach einer viermonatigen Militärgrundausbildung auch zu Kampfeinsätzen im Ausland zu entsenden; im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts sogar noch eher [...]. Über die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete hat der russische Präsident bereits im Oktober 2022 Kriegsrecht verhängt [...]. Der weitere Umstand, dass Wehrpflichtige von Beginn ihrer Wehrdienstzeit an unausgebildet auch zu Kampfeinsätzen im Inland herangezogen werden können [...], gewinnt insbesondere unter Beachtung der völkerrechtswidrigen Annexion ukrainischer Gebiete durch die Russische Föderation Bedeutung. Hier können Wehrdienstleistende auch nach russischem Recht sofort eingesetzt werden, da es sich nach russischer (völkerrechtswidriger) Auffassung nicht um ausländische Gebiete handelt [...]. Wehrdienstleistende wurden und werden auch in grenznahe Gebiete wie Belgorod, Kursk, Brjansk, Rostow und Krasnodar und auch auf die Krim sowie in das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet verbracht [...].

Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen keine Erkenntnisse für den Einsatz Grundwehrdienstleistender in der Ukraine – nach russischer Definition, mithin also mit Ausnahme der Krim und der annektierten ostukrainischen Gebiete – vor. Allerdings zeigen neuere Erkenntnisse im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung, dass der russische Staat andere Methoden nutzt und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiter ausweiten wird, um auch Männer im wehrpflichtigen Alter in die Ukraine entsenden zu können, ohne dass diese als "Wehrdienstleistende" geführt werden: Wehrdienstleistende, die sich mittels Vertrags als Vertragssoldaten verpflichten, werden nicht weiter als Wehrdienstleistende geführt und können rechtmäßig in den Krieg gegen die Ukraine und zu Einsätzen an der Front entsendet werden. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Russische Föderation von dieser Möglichkeit auch unter Ausübung von Druck bis hin zur Anwendung von Zwang vermehrt bis systematisch gegenüber Wehrpflichtigen Gebrauch machen wird.

Bereits seit dem Jahresende 2022 liegen Erkenntnisse vor, dass Wehrdienstleistende sich mittels erzwungener Vertragsabschlüsse als Vertragssoldaten verpflichteten, ehe ihr Wehrdienst endete [...]. Dieses Vorgehen, das bereits 2022 teilweise als "systematisch" [...] bezeichnet wurde, auf die jungen Wehrdienstleistenden Druck bis hin zu Zwang auszuüben, Verträge als Vertragssoldaten abzuschließen, hat seither weiter zugenommen [...]. Auch wurden bereits 2022 Fälle geschildert, in denen sogar Dritte für die Wehrdienstleistenden Verträge unterzeichnet haben sollen [...]. Diese Situation hat sich nach den neuesten Erkenntnissen entscheidungsrelevant verschärft. Wie der russische Verteidigungsminister Schoigu selbst erklärte, soll es bereits ab der Einziehungskampagne im Frühjahr 2023, also ab April 2023, dem regulären Vorgehen entsprechen, dass den Grundwehrdienstleistenden zu Beginn ihrer Wehrdienstzeit der Vertragsschluss als Vertragssoldat angeboten wird [...]. Die Grundwehrdienstpflichtigen erhalten damit die Möglichkeit, sich anstelle des einjährigen regulären Grundwehrdienstes von vornherein – gegen eine entsprechende Bezahlung – als Vertragssoldaten zu verpflichten. Als solche können die "Wehrpflichtigen" sofort in Kriegsgebiete auch auf ausländischem Territorium entsandt werden. Der Einzelrichter ist davon überzeugt [...], dass ausgehend von den sich verdichtenden Anhaltspunkten der angespannten Personalsituation der russischen Armee, des Verlaufs und der Dauer des Krieges in der Ukraine seit nunmehr 1 ½ Jahren und der gesellschaftlichen Stimmung gegen eine weitere Mobilisierung von Reservisten [...] eine ernsthafte, beachtlich wahrscheinliche Gefahr dafür besteht, dass junge Wehrpflichtige zu den Vertragsschlüssen gezwungen oder jedenfalls derart unter Druck gesetzt werden, dass eine freiwillige Verpflichtung nicht mehr automatisch angenommen werden kann. Es ist vielmehr beachtlich wahrscheinlich, dass sich hier gerade gegenüber den noch sehr jungen und entsprechend beeinflussbaren und vulnerablen Grundwehrdienstpflichtigen ein System des Zwangs und des Unterdrucksetzens zeigen wird. Dagegen stellen die formal ggf. sogar zutreffenden Dementi hinsichtlich der Entsendung von Wehrpflichtigen in die Ukraine seitens des russischen Präsidenten und des Verteidigungsministers nach Überzeugung der Kammer keine verlässliche Grundlage für die Einschätzung der Lage mehr dar. [...]

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage ist auch unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers seine von seinem Willen unabhängige Entsendung in den Ukrainekrieg beachtlich wahrscheinlich. Es verbleiben zwar Unsicherheiten hinsichtlich des zu prognostizierenden tatsächlichen Geschehensablaufs. Wesentlich ist jedoch, dass es dem Kläger im Falle der Einziehung zum Grundwehrdienst nach Überzeugung des Einzelrichter angesichts der potentiell schweren Folgen bei qualifizierender Betrachtung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich sein wird, sich effektiv gegen eine bevorstehende Verpflichtung und Entsendung zur Wehr zu setzen. Der Kläger ist aufgrund seines Alters bei der Beurteilung der Frage, wie wahrscheinlich ein erzwungener Vertragsschluss wäre, zudem als eine vulnerable Person einzustufen. Der Einzelrichter geht nicht davon aus, dass es dem Kläger möglich und zumutbar wäre, einem gegen ihn ausgeübten entsprechenden Druck standzuhalten.

c) Dem Kläger droht damit bei Einziehung als Grundwehrdienstpflichtiger hinreichend wahrscheinlich die Entsendung in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und damit eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Denn nicht nur läuft der Kläger in diesem Fall Gefahr, selbst verwundet oder getötet zu werden und damit schwerste Schäden an besonders gewichtigen Rechtsgütern zu erleiden. Die russischen Streitkräfte und die mit ihnen kämpfenden Truppen begehen in dem von Russland geführten Angriffskrieg in der Ukraine und an der dortigen Bevölkerung zudem immer wieder völker- und menschenrechtswidrige Handlungen im Sinne des Art. 3 EMRK wie wahllose Bombardierungen und Granatenangriffe auf zivile Ziele, Folterungen, willkürliche Verhaftungen, Entführungen, Tötungen, Vergewaltigungen, Kindesentziehungen, Zwangsrekrutierungen von ukrainischen Zivilisten und Plünderungen. [...]