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VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 24.07.2024 - 6 K 2238/22.A - asyl.net: M32844
https://www.asyl.net/rsdb/m32844
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten: 

Kann glaubhaft dargelegt werden, dass in der Türkei ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung anhängig ist, so kann eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung vorliegen, wenn eine unverhältnismäßige und diskriminierende Bestrafung droht (sog. Politmalus). Strafrechtliche Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung werden in der Türkei typischerweise dazu genutzt, jegliche kritische Stellungnahme gegenüber dem Präsidenten zu ahnden und zu unterbinden. 

(Leitsatz der Redaktion) 

Schlagwörter: Türkei, politische Verfolgung, Präsidentenbeleidigung, Politmalus, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, Strafverfahren,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

In der Türkei droht ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund eines den türkischen Präsidenten Erdogan kritisierenden Facebook-Posts.

Der Kläger konnte in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts darlegen, dass gegen ihn in der Türkei ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung geführt wird. Durch umfassende Einsicht in die über den eDevlet/UYAP-Account des Klägers abrufbaren Verfahrensdokumente konnte nicht nur die Echtheit der von Klägerseite zum Teil bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Dokumente bestätigt werden. Auch konnte auf diese Weise ermittelt werden, dass der Kläger - wovon auch das Bundesamt im angegriffenen Bescheid ausging - zwar erstinstanzlich vom Vorwurf der Präsidentenbeleidigung freigesprochen wurde, das betreffende Strafverfahren derzeit jedoch - dies ließ sich den beim Bundesamt vorgelegten Dokumenten noch nicht entnehmen - beim Kassationsgerichtshof der Republik Türkei anhängig ist, da die Anwälte des türkischen Staatspräsidenten als Nebenklagevertreter sowohl gegen die erstinstanzliche als auch gegen die diese bestätigende zweitinstanzlich Entscheidung jeweils Rechtsmittel einlegten. Soweit der Kläger gegenüber dem Bundesamt noch angab, er sei in dieser Sache unter Auflagen freigelassen worden, verwechselte er das Verfahren offenbar mit demjenigen, in dem ihm Terrorpropaganda zur Last gelegt wurde. [...]

Zwar kann allein aus dem Akt der Strafverfolgung noch nicht darauf geschlossen werden, dass eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung vorliegt. Nach der ständigem Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei solchen staatlichen Maßnahmen nicht von politischer Verfolgung auszugehen, die allein dem grundsätzlich legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz - etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung – dienen oder die nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet - sog. Politmalus. [...]

Gemessen daran stellt das gegen den Kläger geführte Strafverfahren eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung dar, wenn es nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln durch einen Politmalus gekennzeichnet ist. Strafrechtliche Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung werden in der Türkei typischerweise dazu genutzt, jegliche kritische Stellungnahme gegenüber dem Präsidenten zu ahnden und gleichzeitig durch die abschreckende Wirkung solcher Strafverfahren weitere Kritik zu unterbinden. [...]