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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 21.10.2024 - 1 K 2644/24.A - asyl.net: M32847
https://www.asyl.net/rsdb/m32847
Leitsatz:

Keine ernsthafte individuelle Gefahr im Norden des Libanon aufgrund eines bewaffneten Konflikts: 

1. Es kann offen bleiben, ob in der im Norden des Libanon gelegenen Provinz Akkar ein internationaler bewaffneter Konflikt herrscht. Denn der Konflikt erreicht nicht einen derart hohen Grad willkürlicher Gewalt, dass von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson auszugehen ist. Die nordwestlichen Provinzen Akkar und Nordlibanon sind nur vereinzelt von israelischen Angriffen betroffen. 

2. Bis September 2024 haben sich die beteiligten Konfliktparteien, die Hisbollah und die israelische Armee, weitgehend an die Grundsätze des Kriegsvölkerrechts gehalten; die meisten identifizierbaren Ziele waren militärischer Natur.  Ab dem 23. September 2024 intensivierte die israelische Armee ihr Vorgehen und griff neben Zielen im Südlibanon auch Ziele in der Bekaa-Ebene und in den südlich von Beirut gelegenen Vororten an. Die israelischen Luftangriffe richten sich vor allem gegen Munitionslager und militärische Infrastruktur sowie gegen Führungspersönlichkeiten der Hisbollah und mit ihr verbündeter Gruppen. Die ab dem 30. September 2024 im Süden des Libanon eingesetzten israelischen Bodentruppen griffen vor allem Munitionslager, Tunnel, Raketenabschusssysteme und militärische Infrastruktur an. 

3. Die libanesische Bevölkerung wird vor bevorstehenden Angriffen von den israelischen Streitkräften gewarnt und zur Evakuierung aufgefordert. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Libanon, internationaler bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Zivilpersonen, ernsthafter Schaden,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

II. Ein Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus steht dem Kläger ebenfalls nicht zu. Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG).[...]

2. Aufgrund der aktuellen Sicherheitslage droht dem Kläger in seinem Herkunftsort Alkawashra und der Provinz Akkar ebenfalls kein ernsthafter Schaden. Die Voraussetzungen, die § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Annahme eines ernsthaften Schadens bei bewaffneten Konflikten aufstellt, liegen dort im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vor.

Offenbleiben kann, ob in der im Norden des Libanon gelegenen Provinz Akkar ein internationaler bewaffneter Konflikt herrscht. Denn jedenfalls wäre ein solcher Konflikt im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht durch einen derart hohen Grad willkürlicher Gewalt gekennzeichnet, dass im Falle der Rückkehr des Klägers dorthin von diesem Konflikt eine ernsthafte individuelle Gefahr für ihn ausgeht. [...]

In dem von der Hisbollah kontrollierten Grenzgebiet zu Israel kam es seit dem Angriff der im Gazastreifen ansässigen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nahezu täglich zu gegenseitigem Beschuss zwischen der Hisbollah und Israel mit toten und verletzten Kombattanten, Zivilpersonen und Mitgliedern der im Südlibanon stationierten Beobachtermission UNIFIL. Vereinzelt wurden von der israelischen Armee auch Ziele in anderen Teilen des Libanons angegriffen [...].

Jedenfalls bis Mitte September 2024 haben sich beide Konfliktparteien weitgehend an wesentliche Grundsätze des Kriegsvölkerrechts gehalten. Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt waren die meisten identifizierbaren Ziele militärischer Natur. Allerdings sollen auch bis dahin bereits vereinzelt zivile Gebäude getroffen worden sein. [...]

Bei den Gefechten starben bis zum 16. September 2024 offiziellen Angaben zufolge auf libanesischer Seite 623 Personen, darunter 142 Zivilisten. Außerdem wurden bis zu diesem Zeitpunkt auf libanesischer Seite rund 76.000, nach anderen Quellen rund 86.000 Personen aufgrund der Kämpfe vertrieben. [...]

Ab dem 23. September 2024 intensivierte die israelische Armee ihr Vorgehen gegen die Hisbollah und griff nach eigenen Angaben allein an diesem Tag rund 300, nach anderen Quellen rund 1.300 Einrichtungen der Hisbollah im Libanon aus der Luft an. Bei diesen Angriffen, die sich nicht auf den Südlibanon beschränkten, sondern auch Ziele in der Bekaa-Ebene und in den südlich von Beirut gelegenen Vororten betrafen, kamen allein an diesem Tag etwa 500 Personen ums Leben, darunter auch Frauen und Kinder, mehr als 1.600 weitere Personen wurden verletzt. [...]

In der Folgezeit führte die israelische Armee täglich zahlreiche intensive Luftangriffe gegen Ziele im Libanon aus. Diese Angriffe richten sich vor allem gegen Munitionslager und militärische Infrastruktur der Hisbollah, nach Syrien führende Straßen sowie gegen Führungspersönlichkeiten der Hisbollah und anderer mit ihr verbündeter Gruppen und konzentrieren sich hauptsächlich - aber nicht nur - auf Ziele im Süden des Libanons, die Bekaa-Ebene und die südlichen Viertel und Vororte von Beirut. Insbesondere bei Einsätzen zur Tötung von Führungspersönlichkeiten, bei denen nahezu die komplette Führungsriege der Hisbollah einschließlich ihres Generalsekretärs, Hassan Nasrallah, getötet wurde, weiten sich die Angriffe über diese traditionell als "schiitisch" betrachteten Gebiete aus, so dass auch zunehmend andere Regionen unter Beschuss geraten. Jedoch sind insbesondere die beiden im Nordwesten des Libanon gelegenen Provinzen Akkar und Nordlibanon bisher nur vereinzelt von israelischen Angriffen betroffen. Nach Einschätzung unabhängiger Beobachter handelt es sich bei der israelischen Bombardierung von Zielen im Libanon um die stärksten Luftangriffe der letzten 20 Jahre außerhalb des Gazastreifens. [...]

Ab dem 30. September 2024 setzt die israelische Armee im Süden des Libanon auch Bodentruppen ein. Diese Angriffe richten sich vor allem gegen Munitionslager, Tunnel, Raketenabschusssysteme und sonstige militärische Infrastruktur sowie gegen in der Region stationierte Hisbollah-Einheiten. Der Einsatz von Bodentruppen ist bisher auf einige kleinere Gebiete in unmittelbarer Grenznähe beschränkt. [...]

Die israelischen Streitkräfte warnen die libanesische Bevölkerung häufig - aber nicht durchgehend - vor bevorstehenden Angriffen. Insbesondere wurden die Einwohner zahlreicher im Süden des Libanon gelegener Ortschaften aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und sich nördlich des Awali, eines nördlich von Saida/Sidon gelegenen Flusses zu begeben. Inzwischen soll etwa ein Viertel des libanesischen Territoriums von israelischen Evakuierungsanordnungen betroffen sein. [...]

Aufgrund der Kampfhandlungen wurden auf libanesischer Seite im Zeitraum vom 8. Oktober 2023 bis zum 14. Oktober 2024 rund 2.300 Tote und 11.000 Verletzte verzeichnet. Bei rund 80 % der getöteten Personen soll es sich um Männer handeln. Aufgrund der Kampfhandlungen sollen im Libanon schätzungsweise 1,2 Millionen Binnenvertriebene zu verzeichnen sein, von denen etwa 185.000 in Notunterkünften untergekommen sind. Weitere 440.000 Personen, darunter 320.000 syrische Flüchtlinge, sollen nach Syrien geflohen sein. [...]

Dagegen konnte ein Übergreifen des Syrienkonflikts, in welchem die Hisbollah seit Frühjahr 2013 auf Seiten des syrischen Regimes kämpft, auf libanesisches Territorium weitgehend unterbunden werden. Bis August 2017 befanden sich in der Gegend um den Grenzort Arsal aus Syrien eingedrungene Kämpfer auf libanesischem Staatsgebiet. Nach länger andauernden Kämpfen, an denen auf libanesischer Seite neben der libanesischen Armee auch die Hisbollah beteiligt war, verließen die eingekesselten Kämpfer mit ihren Familien im Rahmen einer Waffenstillstandsvereinbarung mit Bussen die umkämpfte Gegend. [...]

Große terroristische Anschläge, bei denen in den Jahren 2013 bis 2015 zumeist mit Autobomben etwa 100 Personen getötet und etwa 900 Personen verletzt wurden, sind aktuell nicht mehr zu verzeichnen. Den libanesischen Sicherheitskräften gelang es, weitere Anschläge dieser Größenordnung zu verhindern. Auch wenn landesweit weiterhin mit Attentaten terroristischer Gruppen gerechnet werden muss, stehen diese Gruppen unter hohem Verfolgungsdruck der Sicherheitskräfte. Es kommt immer wieder zu Verhaftungen von Mitgliedern dieser Gruppen. [...]

Auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Milizen politischer Parteien fordern vereinzelt Todesopfer. Am 14. Oktober 2021 kam es in Beirut anlässlich einer Demonstration zu einem Feuergefecht zwischen schiitischen und christlichen Milizen mit sieben Toten und etwa 30 Verletzten. Dies war nach Einschätzungen von Beobachtern der schlimmste derartige Gewaltausbruch in Beirut seit mehr als zehn Jahren. [...]

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es in der Provinz Akkar in den letzten Jahren nicht zu großen Anschlägen und bis heute auch nicht zu großflächigen Kampfhandlungen gekommen ist, die geeignet sind, viele Opfer unter der Zivilbevölkerung zu fordern. Die dem Gericht vorliegenden aktuellen Unterlage zeigen vielmehr, dass es in der Provinz Akkar bisher nur ganz vereinzelt zu israelischen Luftangriffen gekommen ist. [...]