Gesamtschau mehrerer Atteste führt zu weiterer Sachaufklärungspflicht:
Aus einer Gesamtbetrachtung aller vorgelegten Bescheinigungen und Gutachten, auch wenn sie für sich genommen nicht die Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG an Atteste erfüllen, können sich Anhaltspunkte für eine zur Reiseunfähigkeit führende Krankheit ergeben, die eine Pflicht der abschiebenden Behörde zur weiteren Sachverhaltsaufklärung auslösen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, nach der grundsätzlich maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts [...] Anspruch auf die vorübergehende Aussetzung ihrer Abschiebung gemäß § 60a AufenthG zu haben. Insbesondere wurde glaubhaft gemacht, dass ihr die beantragte Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zusteht. [...]
Daran gemessen hält es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich und daher in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin krankheitsbedingt reiseunfähig ist (vgl. zum herabgesetzten Beweismaßstab in Bezug auf eine diesbezügliche Glaubhaftmachung: BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2003 - 2 BvR 311/03 -, juris Rn. 16; BVerwG, Beschluss vom 26. Februar 2014 - BVerwG 6 C 3.13 -, juris Rn. 27: Nds. OVG, Beschluss vom 24. Oktober 2022 - 13 ME 249/22 -, juris Rn. 7). [...]
Der Berücksichtigung der fachärztlichen Stellungnahmen der ... Klinik sowie der psychologischen Stellungnahme steht § 60a Abs. 2d AufenthG nicht entgegen. Die Antragstellerin hat die ärztlichen Stellungnahmen überwiegend unverzüglich nach deren Ausstellung vorgelegt. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass eine unverzügliche Vorlage in der Regel nicht mehr ab einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen seit der Ausstellung der Bescheinigung gegeben ist [...]. Die aktualisierte fachärztliche Stellungnahme der ... Klinik vom ... 2023 wurde - aus deren Kopf- und Fußzeilen ersichtlich - von der Klinik als Kurzarztbrief erst am ... 2023 gedruckt, gefaxt und wurde am 1. Februar 2023 zum gerichtlichen Verfahren vorgelegt. Das fachärztliche psychiatrische Gutachten vom ... 2023, von dem nicht bekannt ist, wann dieses der Antragstellerin zuging, wurde zwar erst am 4. September 2023 vorgelegt. Die dieses Gutachten ergänzende fachärztliche Stellungnahme vom ... 2023 wurde indes bereits am 11. November 2023 zum gerichtlichen Verfahren vorgelegt.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antragstellerin zudem - wie der Antragsgegner meint - die schuldhafte Nichteinholung einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung zu einem früheren Zeitpunkt vorzuwerfen ist, da die von ihr geltend gemachte Erkrankung erkennbar schon über einen längeren Zeitraum bestanden hätte und bereits aus diesem Grund von einer nicht mehr unverzüglichen Vorlage der Unterlagen ausgegangen werden könne. Denn über eine derartige Verpflichtung zur Einholung entsprechender Gutachten und die sich aus einer nicht rechtzeitig erfolgten Einholung ergebenden Rechtsfolgen ist die Antragstellerin jedenfalls nicht belehrt worden. [...]
Laut aktualisierter fachärztlicher Stellungnahme der ... Klinik vom ... 2023 suchte die Antragstellerin erstmalig am 24. Januar 2022 psychologische Hilfe beim NTFN e.V.. Dass sie ihre Erkrankung nicht früher geltend gemacht hat, sondern zunächst so lange wie möglich für ihre Kinder und ihren Ehemann habe stark sein wollen, eigene Belastung unterdrückt und für die Familie "funktioniert" habe und es erstmalig durch den konkreten Abschiebeversuch am 13. Januar 2022 zu einer Dekompensation gekommen sei, lässt sich indes in Anbetracht der damals bei der Anhörung zunächst bestehenden Schwangerschaft und des danach noch jungen Alters ihrer Kinder sowie insbesondere auch anhand der Ausführungen im Arztbrief der Oberärztin ... vom 2022 [...] ebenso nachvollziehen.
Die vorgelegten Unterlagen genügen hier in ihrer Gesamtschau zur hinreichenden Glaubhaftmachung einer Reiseunfähigkeit der Antragstellerin durch konkrete Anhaltspunkte für eine nicht abzuwendende ernsthafte Gesundheitsgefährdung.
Zwar handelt es sich auch bei den neueren fachärztlichen Stellungnahmen jeweils für sich betrachtet nicht um ein alle Voraussetzungen einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG genügendes Attest. Gleichwohl handelt es sich um von Fachärzten erstellte und unterzeichnete Stellungnahmen, die in ihrer Gesamtschau betrachtet die diagnostizierten Erkrankungen einschließlich der ICD 10 Klassifizierung - Emotional Instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ (ICD 10: F60.31) sowie rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (ICD 10: F33.2) - erkennen lassen. Den Stellungnahmen lassen sich auch die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die jeweilige fachliche Beurteilung erfolgt ist, entnehmen. So sei u.a. eine eigene Sozial- sowie Flucht- und Traumaanamnese durch einen Spontanbericht durchgeführt und mit anschließender Prüfung im strukturierten diagnostischen Interview hinsichtlich der Leitdiagnosen und zur weiteren Absicherung verschiedene testdiagnostische Verfahren eingesetzt worden. Auch die Verhaltensbeobachtung und vorangegangene psychiatrische und psychologische Berichte seien berücksichtigt worden. Ferner stellen die Stellungnahmen den psychischen Befund und die diagnostische Einordnung dar. Inwieweit die dortigen Angaben der Antragstellerin glaubhaft sind, kann im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens nicht abschließend geklärt werden; Hinweise auf Aggravation oder Simulation hätten sich nach Erachten der stellungnehmenden Fachärzte nicht ergeben. Ferner setzen sich die fachärztlichen Stellungnahmen mit der Frage von durch beziehungsweise während der Abschiebung drohender Dekompensation, Verschlechterung der diagnostizierten Erkrankungen und möglicherweise zu befürchtenden suizidalen Handlungen auseinander.
In dem psychiatrischen Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, Dr. ... vom ... 2023 [...] wird bescheinigt, dass die Antragstellerin aufgrund psychischer Erkrankung reiseunfähig und ein Transport unter Erhalt ihres Lebens nur in stark sediertem Zustand (vermutlich) möglich sei.
Insbesondere nach der von Dr. ... mit Gutachten vom ... 2023 sowie ergänzender Stellungnahme vom ... 2023 mitgeteilten Erwartung suizidaler Handlungen der Antragstellerin bei dem Versuch einer Abschiebung ist das erkennende Gericht nicht davon überzeugt, dass sich dieser Gefahr mithilfe entsprechender begleitender Maßnahmen während des Abschiebevorgang überhaupt vorbeugen lässt. [...]
Die Ausführungen der Fachärzte bieten, selbst wenn es sich dabei jeweils für sich nicht um eine alle Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG erfüllende Bescheinigung handelt, jedenfalls in ihrer Gesamtbetrachtung hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer zu einer Reiseunfähigkeit führenden Erkrankung und lösen daher eine Pflicht zur weiteren Sachverhaltsaufklärung durch den Antragsgegner aus.
Genügt eine vorgelegte ärztliche Stellungnahme den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht vollständig, bleibt die Behörde gleichwohl verpflichtet, während des Abschiebungsvorgangs Leben und Gesundheit des Ausländers zu schützen. Sind Erkrankungen aktenkundig oder gibt es anderweitige Anzeichen dafür, dass die abzuschiebende Person gesundheitlich beeinträchtigt ist, muss die Ausländerbehörde in einem ersten Schritt prognostizieren, ob und in welchem Maße sich der Gesundheitszustand durch die Abschiebung weiter verschlechtert. Insoweit trifft sie eine Ermittlungspflicht. In einem zweiten Schritt muss sie prüfen, ob und wie der Gesundheitsgefahr durch bestimmte Vorkehrungen begegnet werden kann. Mangels eigener fachlicher Expertise ist in der Regel für beide Schritte eine ärztliche Konsultation notwendig [...].
Der Antragsgegner wäre hier gehalten gewesen, den Sachverhalt etwa durch Anordnung einer amtsärztlichen Begutachtung der Antragstellerin weiter aufzuklären. Ferner hätte er sich damit auseinandersetzen müssen, ob und ggf. wie der nach den vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen bestehenden Suizidgefahr durch Begleitmaßnahmen ggf. doch angemessen begegnet werden kann. Wären derartige Begleitmaßnahmen konkret vorgesehen worden, so wäre es wiederum an der Antragstellerin, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG glaubhaft zu machen, dass diese nicht ausreichend sind, um der Gefahr im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG zu begegnen. Vorliegend ist allerdings dem an die LAB gerichteten Abschiebungsgesuch sowie den sonstigen Ausführungen des Antragsgegners nicht zu entnehmen, welche konkreten Maßnahmen (über die bloße Begleitung der Abschiebung durch einen Arzt hinaus) für eine zukünftige Abschiebung vorgesehen sind oder wie die Gefahr einer Suizidalität dabei berücksichtigt würde. Der pauschale Verweis auf die Nichtberücksichtigung der vorgelegten Unterlagen und deren Unzulänglichkeit nach Maßgabe des § 60a Abs. 2c AufenthG genügt der Amtsermittlungspflicht unter Berücksichtigung der von der Antragstellerin vorgelegten Unterlagen nicht. [...]