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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.09.2024 - C-352/23 - LF gg. Bulgarien - asyl.net: M32859
https://www.asyl.net/rsdb/m32859
Leitsatz:

Keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu humanitärem Aufenthaltsrecht: 

1. Die Richtlinie 2011/95/EU verwehrt es den Mitgliedstaaten nicht, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, das mit der allgemeinen Systematik und den Zielen dieser Richtlinie nicht in Zusammenhang steht. Andererseits sind die Mitgliedstaaten auch nicht dazu verpflichtet, einem Drittstaatsangehörigen, der sich unerlaubt in ihrem Hoheitsgebiet aufhält, ein Aufenthaltsrecht aus zwingenden humanitären Gründen zu gewähren. 

2. Solange Drittstaatsangehörige nicht abgeschoben worden sind, können sie sich jedoch auf die in der Charta der Grundrechte und auf die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) und d) der Richtlinie 2008/115/EG garantierten Rechte berufen. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass sich ein unerlaubt in ihrem Hoheitsgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät und imstande ist, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden. 

3. Aus Art.14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG folgt, dass die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, einem Drittstaatsangehörigen, der nicht innerhalb der festgelegten Fristen (Art. 8 Richtlinie 2008/115/EG) abgeschoben werden kann, eine schriftliche Bestätigung darüber auszustellen, dass die ihn betreffende Rückkehrentscheidung vorläufig nicht vollstreckt wird (Duldung). 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Duldung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, humanitäre Gründe,
Normen: RL 2011/95/EU Art.14 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 14 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 8
Auszüge:

[...]

43 Mit seiner ersten, seiner dritten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit dem 15. Erwägungsgrund und Art. 3 dieser Richtlinie sowie mit den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen zu gewähren, die keinen Zusammenhang mit dem Charakter, den Gründen und den Zielen des internationalen Schutzes im Sinne dieser Richtlinie aufweisen. [...]

46 Folglich kann die Gewährung eines Aufenthaltsrechts an einen Drittstaatsangehörigen nicht auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 gestützt werden, wenn ein solches Aufenthaltsrecht durch die Situation materieller Not gerechtfertigt ist, in der sich der Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats befindet, selbst wenn diese Situation so schwerwiegend wäre, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta gleichgestellt werden könnte. [...]

48 Daher hindert die Richtlinie 2011/95 ungeachtet ihres Art. 3 einen Mitgliedstaat nicht daran, einen nationalen Schutz zu gewähren, der mit Rechten verbunden ist, die Personen, die nicht die Flüchtlingseigenschaft oder den Status des subsidiär Schutzberechtigten innehaben, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestatten, wobei die Gewährung eines solchen Schutzes nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt [...]. Es steht einem Mitgliedstaat somit frei, Drittstaatsangehörigen, die sich in einem Zustand extremer materieller Not in seinem Hoheitsgebiet befinden, allein aufgrund seines nationalen Rechts ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen zu gewähren. [...]

55 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihrem zwölften Erwägungsgrund und den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der nicht in der Lage ist, einen Drittstaatsangehörigen innerhalb der gemäß Art. 8 dieser Richtlinie festgelegten Fristen abzuschieben, diesem Drittstaatsangehörigen eine schriftliche Bestätigung darüber ausstellen muss, dass die ihn betreffende Rückkehrentscheidung, obwohl er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, vorläufig nicht vollstreckt wird. [...]

57 Sofern eine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch die Richtlinie 2008/115 eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde, ist der betreffende Mitgliedstaat somit nach Art. 8 dieser Richtlinie verpflichtet, den Drittstaatsangehörigen abzuschieben [...].

59 Wie der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 bestätigt, fällt ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, dessen Abschiebung aufgeschoben wird, daher weiterhin in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Außerdem ergibt sich aus Art. 14 der Richtlinie, dass dieser Drittstaatsangehörige bis zu seiner Abschiebung über bestimmte Ansprüche verfügt.

60 Insoweit verpflichtet Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige illegal aufhält, ihm im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften eine schriftliche Bestätigung darüber auszustellen, dass die gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung vorläufig nicht vollstreckt wird. [...]

62 Mit seiner vierten und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 1, 4 und 7 der Charta in Verbindung mit der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der sich über einen längeren Zeitraum in seinem Hoheitsgebiet ohne anerkannten Status aufgehalten hat und sich derzeit dort illegal aufhält, aus zwingenden humanitären Gründen – gegebenenfalls aufgrund internationalen Schutzes – ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. [...]

64 Daher ist zunächst zu prüfen, inwieweit die Situation eines Drittstaatsangehörigen wie die des Klägers des Ausgangsverfahrens unter das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta fallen kann, und sodann festzustellen, ob eine solche Situation nach den Art. 1, 4 oder 7 der Charta impliziert, dass diesem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist. [...]

67 Gleichwohl kann keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden, dass sie verlangen würde, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt. Was insbesondere Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie anbelangt, so beschränkt sich diese Bestimmung darauf, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage ihres nationalen Rechts und nicht des Unionsrechts zu gewähren [...].

68 Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta erweitern deren Bestimmungen jedoch nicht den Geltungsbereich des Unionsrechts. Daher kann nicht angenommen werden, dass ein Mitgliedstaat nach den Art. 1, 4 oder 7 der Charta verpflichtet sein könnte, einem Drittstaatsangehörigen, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren [...].

73 Als Zweites ist jedoch zum einen hinzuzufügen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie 2008/115 so weit wie möglich sicherstellen müssen, dass, solange die Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen aufgeschoben ist, die medizinische Notfallversorgung sowie die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten gewährleistet und die spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen berücksichtigt werden.

74 Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, wie es sich aus Art. 4 der Charta ergibt, zu beachten. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten auch dafür Sorge tragen müssen, dass sich ein illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger, solange er nicht aus diesem Hoheitsgebiet abgeschoben wurde, nicht in einer Situation befindet, die Art. 4 der Charta verbietet.

75 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass dieser Art. 4 missachtet würde, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre [...].

79 Nach alledem ist auf die vierte und die sechste Frage zu antworten, dass die Art. 1, 4 und 7 der Charta in Verbindung mit der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, einem Drittstaatsangehörigen, der sich derzeit illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, aus zwingenden humanitären Gründen – unabhängig von der Dauer des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet – ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Solange er nicht abgeschoben worden ist, kann sich der Drittstaatsangehörige jedoch auf die ihm sowohl in der Charta als auch in Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Rechte berufen. Zudem kann sich der Drittstaatsangehörige, wenn er auch über die Eigenschaft einer Person verfügt, die internationalen Schutz beantragt und im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbleiben darf, auch auf die in der Richtlinie 2013/33 verankerten Rechte berufen. [...]