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SG Heilbronn

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Zitieren als:
SG Heilbronn, Urteil vom 12.11.2024 - S 16 AY 371/24 - asyl.net: M32863
https://www.asyl.net/rsdb/m32863
Leitsatz:

Bedarfe für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft

1) Die Kenntnis der deutschen Sprache ist notwendige Vorbedingung für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in Deutschland, weshalb der Spracherwerb damit seinerseits einen Bedarf für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben darstellt.

2) Junger Erwachsener im Sinne des § 3 Abs. 4 AsylbLG ist, wer das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat. Der leistungsberechtigte Personenkreis des § 3 Abs. 4 AsylbLG ist damit weiter als der des § 34 SGB XII.

3) Aufgrund der Bedeutung der Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, um gesellschaft­liche Ausgrenzung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verhindern, kommt dem Leistungsträger entgegen dem Wortlaut des § 34 Abs. 7 Satz 2 SGB XII kein Ermessen zu.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Integration, soziokulturelles Existenzminimum, Teilhabe, Lehrbuch
Normen: AsylbLG § 3 Abs. 4 i.V.m. SGB XII § 34b, SGB XII. 7 Satz 2
Auszüge:

[...]

1 Der Kläger begehrt die Übernahme von Kosten für ein Deutsch-Kursbuch in Höhe von 14,50 Euro. [...]

3 Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. Oktober 2023 ab. Die Beschaffung von Kursmitteln für einen Sprachkurs gehöre nicht zu den übernahmefähigen Leistungen nach dem AsylbLG. [...]

13 Die Klage ist [...] als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig und begründet. [...]

15 Der Kläger hat einen Anspruch auf Übernahme von 14,50 Euro für das Deutschbuch "Schritte Plus Alpha Neu 2" gemäß § 3 Abs. 4 AsylbLG i.V.m. § 34b SGB XII. Danach ist der zuständige Träger zur Übernahme berücksichtigungsfähiger Aufwendungen verpflichtet, wenn die leistungsberechtigte Person durch Zahlung an Anbieter in Vorleistung geht, die Voraussetzungen der Leistungsgewährung zur Deckung der Bedarfe im Zeitpunkt der Selbsthilfe vorliegen und der Zweck der Leistung durch Erbringung als Sach- oder Dienstleistung ohne eigenes Verschulden nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen war.

16 Die Voraussetzungen zur Leistungsgewährung im Zeitpunkt der Selbsthilfe lagen vor, denn der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Gewährung des Buches "Schritte Plus Alpha Neu 2" gegen den Beklagten. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 3 Abs. 4 AsylbLG i.V.m. § 34 Abs. 1, 7 Satz 2 SGB XII. Nach § 3 Abs. 4 AsylbLG werden Bedarfe für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem notwendigen Bedarf und dem notwendigen persönlichen Bedarf (§ 3 Abs. 1 bis 3 AylbLG) gesondert berücksichtigt, entsprechend den §§ 34, 34a und 34b SGB XII. Gemäß § 34 Abs. 1, 7 Satz 1 SGB XII werden für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft pauschal 15 Euro monatlich berücksichtigt, sofern tatsächliche Aufwendungen entstehen im Zusammenhang mit Aktivitäten in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Unterricht in künstlerischen Fächern (zum Beispiel Musikunterricht) und vergleichbaren angeleiteten Aktivitäten der kulturellen Bildung sowie Freizeiten. Nach § 34 Abs. 7 Satz 2 SGB XII können auch weitere tatsächliche Aufwendungen berücksichtigt werden, wenn sie im Zusammenhang mit der Teilnahme an Aktivitäten nach Satz 1 Nummer 1 bis 3 entstehen und es dem Leistungsberechtigten im Einzelfall nicht zugemutet werden kann, diese aus Leistungen nach Satz 1 und aus dem Regelbedarf zu bestreiten.

17 Der Kläger gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 3 Abs. 4 AsylbLG i.V.m. § 34 Abs. 1, 7 SGB XII, da er das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und damit junger Erwachsener ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass der anspruchsberechtigte Personenkreis des § 3 Abs. 4 AsylbLG weiter ist als der des § 34 SGB XII (Siefert/Siefert AsylbLG § 3 Rn. 44). Die Kosten für ein - einen Kurs zum Erlernen der deutschen Sprache begleitendes - Buch stellen nach Überzeugung der Kammer einen Bedarf für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft dar. Denn mit dieser Teilhabe ist das "Einbezogensein" in das soziale und kulturelle Leben vor Ort gemeint, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert [...]. Ein solches "Einbezogensein" ist aber ohne Kenntnis der "vor Ort" gesprochenen Sprache nicht vorstellbar. Die Möglichkeit der Verständigung innerhalb der Gemeinschaft ist vielmehr Grundvoraussetzung und Schlüssel jeglicher sozialen Interaktion, wofür das Erlernen des Sprechens der Sprache dieser Gemeinschaft erforderlich wird. Der Spracherwerber ist damit notwendige Vorbedingung der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben und stellt damit seinerseits einen Bedarf für die Teilhabe dar.

18 Dem Kläger sind auch tatsächliche Aufwendungen entstanden, nämlich für das, den von ihm besuchten Deutschkurs begleitende, Kursbuch. Dem Kläger war dabei nicht zuzumuten, dieses Buch aus seinem notwendigen Bedarf bzw. aus seinem notwendigen persönlichen Bedarf zu bestreiten. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der notwendige persönliche Bedarf gerade nicht – anders als beim Regelbedarf nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und SGB XII – Kosten für entsprechende Kurse umfasst. In der Gesetzesbegründung zum Dritten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes wird insoweit ausgeführt, dass es Unterschiede bei den persönlichen Bedarfen zwischen den Beziehern von Leistungen nach dem AsylbLG auf der einen Seite und den Beziehern von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII auf der anderen Seite gibt, weshalb bestimmte regelbedarfsrelevante Verbrauchsausgaben bei den Leistungen nach dem AsylbLG unberücksichtigt bleiben [...]. Dies betrifft auch die Abteilung 9 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur), bei denen Ausgaben auch für "außerschulische Sport- und Musikunterrichte, Hobbykurse; Reparaturen und Installationen von langlebigen Gebrauchsgütern und Ausrüstungen für Kultur, Sport, Camping und Erholung, Musikinstrumente sowie Sport- und Campingartikeln" nicht zu berücksichtigen sind, ebenso wie in Abteilung 10 "Gebühren für Kurse (ohne Erwerb von Bildungsabschlüssen)" nicht zu berücksichtigen sind [...]. Hinzu kommt, dass bei der Erhebung der Verbrauchsausgaben ohnehin nur Ausgaben von Personen erfasst worden sein dürften, die der deutschen Sprache mächtig sind, weshalb die der Integration in die deutsche Gesellschaft dienenden Sprachkurse bei den regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben ohnehin unberücksichtigt geblieben sein dürften [...]. Dem Kläger stehen demgemäß im Rahmen seines notwendigen persönlichen Bedarfs keinerlei Mittel zur Verfügung, seinen konkreten Bedarf für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in Form eines Sprachkurses selbst zu decken. Hinzu kommt, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Bedarfsentstehung, nämlich zu dem Zeitpunkt als er den Sprachkurs besucht hat, lediglich Barmittel in Höhe von 18 Euro monatlich ausgezahlt erhalten hat, so dass auch eine Verschiebung von Mitteln, die für andere Bedarfe berücksichtigt waren, schwerlich möglich war.

19 Zwar hatte der Kläger zum Bedarfszeitpunkt zweifelsohne auch einen Anspruch auf Leistungen nach § 34 Abs. 7 Satz 1 SGB XII, wonach ihm monatlich pauschal 15 Euro zu erbringen gewesen wären, da er an einer in § 34 Abs. 7 Satz 1 SGB XII abschließend aufgezählten Aktivität teilgenommen hat und ihm hierfür Aufwendungen entstanden sind, zumindest Fahrtkosten, wie sich bereits aus seinem Antrag auf Gewährung der Fahrkosten für den Sprachkurs ergibt. Allerdings wurde dem Kläger auch diese Pauschale nicht gewährt, vielmehr wurde ihm mit Bescheid vom 5. September 2023 lediglich ein "Vorschuss" in Höhe von 49 Euro für die Fahrtkosten bewilligt, der vom Kläger wieder zurückbezahlt werden sollte.

20 Da der Kläger keine Leistungen nach § 34 Abs. 7 Satz 1 SGB XII erhalten hat, konnte er zum Bedarfszeitpunkt seinen Bedarf auch nicht mit diesen Leistungen bestreiten. Er kann auch nicht im Nachgang auf diese Leistungen verwiesen werden, nachdem diese antragsabhängig sind (§ 34a Abs. 1 Satz 1 SGB XII), er aber einen entsprechenden Antrag nicht gestellt hat und auch durch den Beklagten nicht auf die Möglichkeit der Antragstellung hingewiesen wurde, obwohl diesem bekannt war, dass die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorlagen.

21 Das Antragserfordernis in Bezug auf die Leistungen gemäß § 34 Abs. 7 Satz 2 SGB XII war hingegen erfüllt, ein entsprechender Antrag gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. § 34a Abs. 1 Satz 1 SGB XII, das Kursbuch als weitere tatsächliche Aufwendung zu berücksichtigen, liegt vor.

22 Aufgrund der Bedeutung der Leistungen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, um gesellschaftliche Ausgrenzung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verhindern, kommt dem Leistungsträger entgegen dem Wortlaut des § 34 Abs. 7 Satz 2 SGB XII auch kein Ermessen zu [...], die Leistungen sind deshalb bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen – wie hier - aufgrund gebundener Entscheidung zu erbringen. [...]