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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 28.11.2024 - 1 A 1.23 - asyl.net: M32880
https://www.asyl.net/rsdb/m32880
Leitsatz:

Abschiebungsanordnung zur Abwehr terroristischer Gefahren: 

Eine Gefahr im Sinne von § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann auch dann vorliegen, wenn der Ausländer zwar nicht selbst ideologisch radikalisiert ist, er sich jedoch von Dritten in dem Wissen um deren ideologische Ziele für entsprechende Gewalthandlungen instrumentalisieren lässt oder er sich im In- oder Ausland in den Dienst einer terroristischen Vereinigung stellt und diese in dem Wissen um deren ideologische Radikalisierung bereitwillig durch die Begehung schwerer Straftaten unterstützt, ohne in der Folge erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand zu nehmen (wie BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2023 - 1 VR 1.23 - juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Kriegsverbrechen, humanitäres Völkerrecht, Abschiebung, Freiheitsstrafe, Jugendstrafe, IS, Irak, Haftbedingungen, Zusicherung, Terrorismusvorbehalt, terroristische Vereinigung, Auslieferungsrecht, Auslieferung, Doppelbestrafung,
Normen: AufenthG § 58a Abs. 1 Satz 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 6, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, VwVfG § 28 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

[...]

1 Der Kläger, ein 25-jähriger irakischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Anordnung seiner Abschiebung in die Republik Irak.

2 [...] Im Januar 2019 wies die Ausländerbehörde des Beklagten den Kläger aus; zugleich verfügte sie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das sie zunächst auf die Dauer von acht Jahren und im Mai 2022 auf einen Zeitraum von 20 Jahren befristete. Im Dezember 2019 widerrief das Bundesamt das zugunsten des Klägers festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG auf der Grundlage von § 73c Abs. 2 AsylG a. F. mit der Begründung, der Irak habe mit Verbalnote vom 21. Oktober 2019 diplomatische Zusicherungen erteilt. Im gleichen Monat drohte die Ausländerbehörde des Beklagten dem Kläger die Abschiebung in den Irak an. Auf den Antrag des Klägers stellte das Verwaltungsgericht Berlin mit Beschluss vom 24. Januar 2020 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots wieder her, insbesondere, weil dem Kläger im Irak Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohten und diese Gefahren durch die von der Botschaft der Republik Irak abgegebene Zusicherung nicht ausgeräumt würden. [...]

29 1.4 Die Abschiebungsanordnung ist – wie der Senat bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausgeführt hat – auch materiell rechtmäßig. [...]

31 a) Die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG ist gegenüber der Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG eine selbstständige ausländerrechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr. Sie zielt auf die Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (aa) und/oder einer terroristischen Gefahr (bb). Eine solche Gefahr ging vom Kläger bei Abschiebung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose (cc) aus (b).

32 [...] Das Erfordernis einer "besonderen" Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie auf das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Da es um die Verhinderung derartiger Straftaten geht, ist es nicht erforderlich, dass mit deren Vorbereitung oder Ausführung in einer Weise begonnen wurde, die einen Straftatbestand erfüllt und etwa bereits zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt hat [...].

33 [...] Eine völkerrechtlich geächtete Verfolgung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln liegt jedenfalls dann vor, wenn politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden [...]. Entsprechendes gilt bei der Verfolgung ideologischer Ziele. Eine terroristische Gefahr kann nicht nur von Organisationen, sondern auch von Einzelpersonen ausgehen, die nicht als Mitglieder oder Unterstützer in eine terroristische Organisation eingebunden sind oder in einer entsprechenden Beziehung zu einer solchen stehen. Erfasst sind grundsätzlich auch Zwischenstufen lose verkoppelter Netzwerke, (virtueller oder realer) Kommunikationszusammenhänge oder "Szeneeinbindungen", die auf die Realitätswahrnehmung einwirken und geeignet sind, die Bereitschaft im Einzelfall zu wecken oder zu fördern [...].

34 cc) Die für § 58a AufenthG erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. [...] In Fällen, in denen sich eine Person in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikal-islamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten Dschihad als verpflichtend ansieht, kann von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht [...]. Für eine entsprechende "Gefahrenprognose" bedarf es – wie bei jeder Prognose – zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Angesichts der besonderen Gefahrenlage, der § 58a AufenthG durch die tatbestandliche Verselbstständigung begegnen soll, genügt es, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass sich die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann [...]. Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände wie Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. [....] Ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, kann sich – abhängig von den Umständen des Einzelfalles – in der Gesamtschau schon daraus ergeben, dass ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer sich in besonderem Maße mit dem radikal-extremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in "religiösen" Fragen regelmäßig austauscht [...]. Erst recht kann ein solches beachtliches Eintrittsrisiko anzunehmen sein, wenn die Radikalisierung eines solchen Ausländers ein Stadium erreicht, in dem sich dieser nach reiflicher Abwägung verpflichtet fühlt, seine Religion mit dem Mittel des gewaltsamen Kampfes zu verteidigen. [...]

35 [...] Eine Gefahr im Sinne des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann mit Blick auf die geschützten Rechtsgüter vielmehr auch dann vorliegen, wenn der Ausländer zwar nicht selbst – gar vollständig oder nachhaltig – ideologisch radikalisiert ist, er sich jedoch von Dritten in dem Wissen um deren ideologische Ziele für entsprechende Gewalthandlungen instrumentalisieren lässt oder er sich im In- oder Ausland in den Dienst einer terroristischen Vereinigung stellt und diese in dem Wissen um deren ideologische Radikalisierung bereitwillig durch die Begehung schwerer Straftaten unterstützt, ohne in der Folge erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand zu nehmen [...].

36 b) In Anwendung dieser Grundsätze ist, bezogen auf den insoweit maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Abschiebung des Klägers, weiterhin davon auszugehen, dass von diesem aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 58a AufenthG ausging, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden ist. [...]

44 cc) Ein erkennbares und glaubhaftes Abstandnehmen von der Unterstützung des IS war auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Abschiebung nicht erkennbar, sodass von einem Fortbestehen der terroristischen Gefahr ausgegangen werden musste. [...]

46 Das Vorbringen des Klägers, es sei ihm nicht möglich, sich von dem IS zu distanzieren, da er sich zu keinem Zeitpunkt als dem IS zugehörig erklärt habe, lässt nicht erkennen, dass sich seine Einstellung gegenüber der Terrororganisation verändert und er Einsicht in die Unrichtigkeit seines zurückliegenden Verhaltens gewonnen hätte. Der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den Grundrechten (Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG) verankerte Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten ("nemo tenetur se ipsum accusare") schützt den Kläger nicht vor einer das wesentliche Ergebnis der strafrechtlichen Ermittlungen berücksichtigenden Gefahrenprognose. Ein gleichsam doppeltes Recht, einerseits im Strafverfahren zu schweigen und andererseits im gefahrenabwehrrechtlichen Verwaltungsverfahren von einer negativen Prognoseentscheidung verschont zu bleiben, liefe dem § 58a AufenthG zugrunde liegenden Ziel einer präventiven Gefahrenabwehr zuwider. Lässt sich der Betroffene zu einem gefahrbegründenden Sachverhalt im Strafverfahren nicht ein, so hat das Verwaltungsgericht dies nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO frei zu würdigen. [...]

59 Die oberste Landesbehörde und nach ihr das Bundesverwaltungsgericht sind im Verfahren nach § 58a AufenthG nicht dazu berufen, im Rahmen der Prüfung, ob von dem Ausländer eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr ausgeht, strafrechtliche Urteile daraufhin zu überprüfen, ob der Ausländer die strafbare Handlung, deretwegen er verurteilt worden ist, tatsächlich begangen hat. Es ist nicht ihre Aufgabe, gleichsam das Strafverfahren zu wiederholen und die strafrechtliche Hauptverhandlung fortzuführen. Vielmehr sind sie in aller Regel berechtigt, bei ihrer Prüfung an die strafrechtliche Entscheidung anzuknüpfen und von deren Richtigkeit auszugehen. Dies hat namentlich zu gelten, wenn diese auf der Grundlage einer umfänglichen Beweisaufnahme ergangen ist und sich eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht aufdrängt, insbesondere, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass die Ausländerbehörde und in der Folge das Bundesverwaltungsgericht die Umstände der Tat besser als die Strafverfolgungsbehörden und das Strafgericht aufklären können. Hiervon ist erst recht auszugehen, wenn das Strafurteil auch einer revisionsgerichtlichen Überprüfung standgehalten hat [...].

143 c) Die Abschiebungsanordnung steht zudem im Einklang mit dem Unionsrecht [...]. Eine Frist zur freiwilligen Ausreise musste dem Kläger nach Unionsrecht wegen der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung einer terroristischen Gewalttat nicht eingeräumt werden (Art. 7 Abs. 4 RL 2008/115/EG [...]). 

145 a) Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, so hat die oberste Landesbehörde zu prüfen, ob sie eine Abschiebungsanordnung erlässt oder ob ggf. anderweitige Maßnahmen durch die Ausländerbehörde – etwa der Erlass einer sofort vollziehbaren Ausweisung nebst Abschiebungsandrohung – oder Maßnahmen auf der Grundlage des Strafrechts oder des allgemeinen Polizeirechts ausreichen (Entschließungsermessen).

146 Der Schutz der Allgemeinheit vor Terroranschlägen gehört zu den wichtigsten öffentlichen Aufgaben und kann auch sehr weitreichende Eingriffe in die Rechte Einzelner rechtfertigen [...]. Es ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die oberste Landesbehörde dem öffentlichen Interesse an der Abwehr der von dem Kläger ausgehenden terroristischen Gefahr ein höheres Gewicht beimisst als dessen Interesse am Verbleib in Deutschland.

147 Die oberste Landesbehörde hat ihr Entschließungsermessen fehlerfrei dahingehend ausgeübt, dass andere im Aufenthaltsgesetz vorgesehene Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung oder sonstige gefahrenabwehrrechtliche Möglichkeiten nicht ausreichen, um der besonderen vom Kläger ausgehenden Gefahr wirksam zu begegnen. Dies ist unter den hier gegebenen Umständen angesichts der als beachtlich wahrscheinlich anzunehmenden Bereitschaft des Klägers zur Begehung oder Mitwirkung an einem mit einfachsten Mitteln jederzeit realisierbaren Terroranschlag in Deutschland und der allenfalls begrenzten Wirksamkeit auch aufwändigerer Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen [...] sowie des Umstands, dass trotz der gegen den Kläger bereits verfügten Ausweisung aufenthaltsbeendende Maßnahmen wegen des Fortbestehens der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bislang nicht ergriffen werden durften, nicht zu beanstanden. Das Bestreben, das Bestehen von Abschiebungsverboten ohne Bindung an die im Asylverfahren getroffenen Feststellungen einer höchstrichterlichen Überprüfung zuzuführen, ermächtigt die oberste Landesbehörde auch nach dem Ergehen einer Ausweisungsverfügung, sich des Instruments der Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG mit dem Ziel der effektiven Abwehr einer von dem Aufenthalt des Ausländers ausgehenden besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder terroristischen Gefahr zu bedienen. [...]

151 Die Ermessenserwägungen tragen dem Umstand, dass der Kläger nach seiner Rückführung in den Irak aufgrund der in Bezug auf seine Person erlassenen Haftbefehle erwartungsgemäß festgenommen und inhaftiert werden würde, in Anbetracht sowohl des Hinweises auf das im Rahmen der Prüfung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten umfassend [...] behandelte Fehlen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Doppelbestrafung und Todesstrafe unterworfen zu werden [...], als auch der in diesem Zusammenhang explizit [...] behandelten oder jedenfalls konkludent [...] mitberücksichtigten Haftsituation noch hinreichend Rechnung. [...]

161 bb) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]

162 Im Lichte der Art. 1 der Protokolle Nr. 6 und 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe, denen zufolge die Todesstrafe abgeschafft ist und niemand zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden darf, verbietet Art. 2 EMRK die Auslieferung oder Ausweisung einer Person in einen anderen Staat, wenn ernsthafte Gründe für die Gefahr bewiesen sind, dass gegen sie die Todesstrafe nicht nur verhängt, sondern auch vollstreckt wird [...].

163 [...] Selbst wenn eine solche Gefahr im Einzelfall droht, kann diese unter bestimmten Voraussetzungen durch eine diplomatische Zusicherung ausgeschlossen werden [...]. 

165 cc) Gemessen daran bestand im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt nicht die reale Gefahr, dass gegen den Kläger im Falle seiner Abschiebung in die Republik Irak im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG und von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK die Todesstrafe verhängt und vollstreckt oder er der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen wird.

166 (1) Der Senat folgt, soweit es die reale Gefahr der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe betrifft, den Gründen der in Bezug auf den Kläger ergangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. Juli 2020 [...].

167 (a) Die Todesstrafe ist im irakischen Strafrecht vorgesehen. Sie wird unter anderem insbesondere bei Mord und terroristischen Aktivitäten, vor allem gegen mutmaßliche "IS"-Kämpfer, sowohl verhängt als auch vollstreckt. Die einschlägigen Straftatbestände sind unklar formuliert. Der Begriff der terroristischen Handlung wird weit und vage gefasst [...]. Gemäß Art. 4 Satz 1 des im Jahr 2005 erlassenen Antiterrorgesetzes Nr. 13 (im Folgenden: ATG 2005) wird, wer als Haupttäter oder Teilnehmer eine der in den Art. 2 und 3 dieses Gesetzes genannten terroristischen Handlungen begeht, zum Tode verurteilt. [...]

168 (b) Die Todesstrafe ist indes für zur Tatzeit Minderjährige nicht vorgesehen. Gemäß Art. 66 Satz 1 des im Juli 1969 beschlossenen irakischen Strafgesetzbuchs Nr. 111 in der Fassung vom 14. März 2010 (im Folgenden: StGB Irak 2010) gilt als Jugendlicher jede Person, die im Alter zwischen sieben und 18 Jahren eine Straftat begeht. Ist der Jugendliche zur Zeit der Begehung der Straftat noch nicht 15 Jahre alt, so gilt er nach Art. 66 Satz 2 StGB Irak 2010 als Kind; ist er zwischen 15 und 18 Jahren alt, so gilt er nach dieser Norm als Jugendlicher. Gemäß Art. 73 Abs. 1 StGB Irak 2010 wird ein Jugendlicher, der ein Verbrechen begeht, in einer Schule für jugendliche Straftäter für eine Dauer von mindestens zwei Jahren und höchstens 15 Jahren untergebracht, wenn das Verbrechen mit Todesstrafe oder lebenslänglicher Freiheitsstrafe bedroht ist. [...]

169 Dass das irakische Strafrecht die Verhängung der Todesstrafe gegenüber Minderjährigen nicht vorsieht, bestätigt auch die mit Verbalnote der Botschaft der Republik Irak in ... vom 21. Oktober 2019 erteilte diplomatische Zusicherung. Danach "verbietet das irakische Gesetz die Verhängung der Todesstrafe gegenüber Straftätern, die bei Ausübung der Straftat noch minderjährig waren (irakisches Strafgesetzbuch Art. 79), welcher besagt, dass derjenige nicht zu einer Todesstrafe verurteilt wird, wenn er bei Ausübung der Straftat unter 18 Jahre alt war und das 20. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und die Todesstrafe durch eine lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt wird". Dabei dürfte es sich allerdings um einen Übersetzungsfehler handeln, da die Vorschrift ausweislich der englischen Fassung des irakischen Strafgesetzbuchs ausdrücklich nur Heranwachsende betrifft, die bei Begehung der Tat zwischen 18 und 20 Jahre alt waren. Ist für diese aber die Todesstrafe ausgeschlossen, so gilt dies erst recht für bei Tatbegehung minderjährige Straftäter, ohne dass diesen indes die in der Vorschrift angesprochene lebenslange Freiheitsstrafe droht.

170 Diese Rechtslage findet ihre Entsprechung in der Auskunftslage, der zufolge Erkenntnisse, dass die Todesstrafe in der Republik Irak in jüngerer Zeit gegen zur Tatzeit Minderjährige verhängt oder gar verhängt und vollzogen worden ist, nicht vorliegen [...].

171 (c) Gemessen daran muss der Kläger, obwohl diesem gegenüber ausweislich der auf ein Rechtshilfeersuchen deutscher Behörden ergangenen Verbalnote des Außenministeriums der Republik Irak vom 9. April 2019 seitens des Untersuchungsgerichts ... wegen einer Straftat nach "Artikel 4/Terrorismus", mithin Art. 4 ATG 2005, im Kontext der Ermordung von Oberst ... ein nationaler und ein internationaler Haftbefehl ergangen ist, nicht besorgen, dass die Todesstrafe gegen ihn auch nur verhängt wird, weil der irakische Staat ihn, wie auch aus der Mitteilung des Iraqi National Intelligence Service vom 25. September 2019 hervorgeht, als zum Zeitpunkt der Begehung der ihm vorgeworfenen Tat 15 Jahre alt und damit minderjährig ansieht.

172 (2) Der Kläger vermag sich hinsichtlich einer ihm im Falle seiner Abschiebung im Irak etwaig drohenden erneuten Bestrafung wegen der Beteiligung an der Hinrichtung von Oberst ... und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung auch nicht mit Erfolg auf ein Verbot der Doppelbestrafung zu berufen.

173 (a) Ob den seitens des Auswärtigen Amtes eingeholten diplomatischen Zusicherungen der Botschaft der Republik Irak in ... zu entnehmen ist, dass ein erneutes Strafverfahren gegen den Kläger wegen einer Beteiligung an der Hinrichtung von Oberst ... und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ausgeschlossen ist, bedarf weiterhin keiner abschließenden Entscheidung.

174 [...] Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 StGB Irak 2010 kann gegen eine Person, die außerhalb des Irak eine Straftat begeht, nur mit Genehmigung des Justizministers ein Gerichtsverfahren eingeleitet werden. Die betreffende Person kann gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 StGB Irak 2010 nicht vor Gericht gestellt werden, wenn sie bereits von einem ausländischen Gericht rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurde und die in diesem Verfahren gegen sie verhängte Strafe vollständig verbüßt wurde oder wenn das betreffende Verfahren oder die betreffende Strafe nach geltendem Recht für nichtig erklärt oder aufgehoben wurde und die rechtskräftige Verurteilung, die Aufhebung des Verfahrens oder die Aufhebung der Strafe in die Zuständigkeit des Landes fällt, in dem das Urteil ergangen ist. [...]

175 (b) Selbst für den Fall, dass der Kläger nach einer Abschiebung im Irak wegen derselben Handlungen erneut strafrechtlich verurteilt würde, wäre die ihn nach den Erkenntnissen zu (1) (b) erwartende Strafandrohung für sich genommen nicht geeignet, ein Abschiebungsverbot zu begründen.

176 Eine Geltung des Grundsatzes "ne bis in idem" ergibt sich für den vorliegenden Fall nicht aus Art. 103 Abs. 3 GG. Das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung steht einer durch die Abschiebung ermöglichten neuerlichen Verfolgung derselben oder im Wesentlichen gleichen, den Ausländer betreffenden und nach Ort und Zeit zusammengehörenden Tatsachen, durch einen anderen Staat nicht entgegen. Eine solche Mitwirkung verstößt als solche auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip oder sonstige verfassungsrechtliche Gewährleistungen [...]. Art. 4 Nr. 1 des von der Bundesrepublik Deutschland nicht ratifizierten Protokolls Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. November 1984, dem zufolge niemand wegen einer Straftat, wegen derer er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden darf, steht wie Art. 103 Abs. 3 GG nur einer neuerlichen Strafverfolgung durch denselben Staat entgegen. Ebenso verhält es sich in Bezug auf Art. 14 Abs. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, dem zufolge niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen derer er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Die Republik Irak ist nicht Vertragsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens, dessen Art. 54 es einer Vertragspartei untersagt, eine Person, die durch eine andere Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, wegen derselben Tat zu verfolgen, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Ebenso wenig ist die Republik Irak an Art. 50 GRC gebunden, der es einem Mitgliedstaat untersagt, eine Person wegen einer Straftat, deretwegen diese bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut zu verfolgen oder zu bestrafen. Überdies ist auch eine dem Grundsatz "ne bis in idem" entsprechende allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 Satz 1 GG nicht feststellbar, da Staaten die Ausgestaltung und Ausübung ihrer Strafgewalt als wesentliches souveränes Recht betrachten [...]. Eine Doppelbestrafung stellt auch im Übrigen grundsätzlich keine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar.

177 Allerdings ist es der Bundesrepublik Deutschland im Lichte von Art. 3 EMRK, aber auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verwehrt, einen Ausländer abzuschieben, wenn die Strafe, die gegen ihn in dem Zielland der Abschiebung verhängt würde, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erschiene, mit Blick auf eine Nichtanrechnung oder Nichtberücksichtigung der in einem Drittstaat wegen derselben Tat erlittenen Strafe diese äußerste Grenze überschritte oder grausam, unmenschlich oder erniedrigend wäre. Abweichendes gilt hingegen dann, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts bereits nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Das Grundgesetz geht von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (Präambel, Art. 24 bis 26 GG). Es gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (BVerfG, Beschluss vom 31. März 1987 - 2 BvM 2/86 - BVerfGE 75, 1 <17 f.>). [...]

186 Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Recht der Auslieferung sind vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Diese Rechtsprechung ist auf die besondere Konstellation des § 58a AufenthG zu übertragen. Auch hier ist es grundsätzlich zulässig, durch geeignete Zusicherungen die Befürchtung auszuräumen, dem betroffenen Ausländer drohe im Abschiebezielstaat möglicherweise eine gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Von der gänzlichen Ungeeignetheit der Zusicherung des anderen Staates muss dabei nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden [...]. Die Anforderungen an die Verlässlichkeit einer diplomatischen Zusicherung werden maßgeblich durch die Bedingungen im Abschiebezielland und den konkreten Inhalt der Zusicherung bestimmt. Ob eine solche Zusicherung den jeweils bestehenden Bedenken Rechnung trägt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles festzustellen. Das Fachgericht hat anhand dieser Maßstäbe zu prüfen, ob die Zusicherung die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 EMRK wirksam ausschließt und insbesondere den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Anforderungen entspricht [...]. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist im Rahmen der Prüfung der Qualität und der Verlässlichkeit der durch das Zielland der Abschiebung erteilten diplomatischen Zusicherungen unter anderem zu berücksichtigen, 1. ob der Inhalt der Zusicherungen dem Gericht offengelegt wird, 2. ob die Zusicherungen spezifisch oder allgemein und vage sind, 3. wer die Zusicherungen gegeben hat und ob diese Person den Empfangsstaat binden kann, 4. wenn die Zusicherungen von der Zentralregierung des Aufnahmestaats abgegeben wurden, ob von den lokalen Behörden erwartet werden kann, dass sie sich daran halten, 5. ob die Zusicherungen eine Behandlung betreffen, die im Aufnahmestaat rechtmäßig oder rechtswidrig ist, 6. ob sie von einem Vertragsstaat erteilt sind, 7. die Dauer und Stärke der bilateralen Beziehungen zwischen dem abschiebenden und dem aufnehmenden Staat, einschließlich des Verhaltens des Aufnahmestaats bei der Einhaltung ähnlicher Zusicherungen, 8. ob die Einhaltung der Zusicherungen objektiv durch diplomatische oder andere Überwachungsmechanismen überprüft werden kann, einschließlich der Gewährung eines ungehinderten Zugangs zu den Anwälten des Klägers, 9. ob es im Aufnahmestaat ein wirksames System zum Schutz vor Folter gibt, einschließlich der Frage, ob er bereit ist, mit internationalen Überwachungsmechanismen (einschließlich internationaler Menschenrechts-NGOs) zusammenzuarbeiten, und ob er bereit ist, Foltervorwürfe zu untersuchen und die Verantwortlichen zu bestrafen, 10. ob der Kläger zuvor im Aufnahmestaat misshandelt worden ist, und 11. ob die Zuverlässigkeit der Zusicherungen von den inländischen Gerichten des abschiebenden Staats geprüft worden ist (EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - Nr. 8139/09 - NVwZ 2013, 487 Rn. 189). [...]

213 (5) Dem Kläger droht in der Republik Irak auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch nichtstaatliche Akteure, namentlich durch Angehörige von Oberst ..., selbst wenn diese angekündigt haben, an ihm Selbstjustiz zu verüben.

214 Zwar stehen sogenannte Ehrverbrechen auch im Irak unter Strafe, dennoch bleiben Ehrenmorde ein Risiko, zumal das irakische Strafrecht für Gewalttaten aus "ehrenhaften Motiven" immer noch eine milde, reduzierte Strafzumessung vorsieht, ihre Ahndung durch die im Irak weit verbreitete Korruption bei staatlichen Behörden erschwert wird und der irakische Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger vor Repressionen nichtstaatlicher Akteure zu schützen [...].

215 Ehrenmorde stellen indes auch im Irak erkennbar keinen Regelfall dar [...]. Im Einzelfall des Klägers ist zu berücksichtigen, dass dieser seine gegen ihn wegen Beihilfe zum Mord verhängte Freiheitsstrafe verbüßt hat. Dass seine Familie in den zurückliegenden Jahren Bedrohungen erfahren hat, ist nicht erkennbar. Den Schilderungen des Klägers ist vielmehr zu entnehmen, dass seine im Irak lebenden Verwandten unbehelligt geblieben sind. Hinzu kommt, dass der Kläger einer wohlhabenden und einflussreichen Familie entstammt und er sich im Falle seiner Abschiebung auch eigenem Vorbringen zufolge nicht nur auf ein familiäres Netzwerk stützen könnte, sondern von diesem auch die erforderliche, auch finanzielle Unterstützung erfahren würde, die es ihm ermöglichte, seinen Wohnsitz in der Anonymität einer Großstadt, sei es im Zentralirak, sei es in der Region Kurdistan zu nehmen und sich dort mit dem Rückhalt seiner Familie eine neue bescheidene Existenz aufzubauen. Mit Blick darauf ist nicht erkennbar, dass sich seine Situation in einer Weise als kritisch darstellte, die eine Verweisung auf andere Landesteile ausschlösse. [...]