BlueSky

OVG Thüringen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 30.07.2024 - 4 EO 133/24 - asyl.net: M32881
https://www.asyl.net/rsdb/m32881
Leitsatz:

Kein Zusammenhang zwischen Rückkehrentscheidung und Pflicht zur Erteilung eines Aufenthaltstitels:

"1. Es besteht kein Anspruch auf Feststellung, dass der Aufenthalt eines Ausländers bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als erlaubt gilt, wenn die Fiktionswirkung mit Ablehnung seines Antrags auf Erteilung/Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis erloschen ist (Beschluss des Senats vom 30. März 2023 - 4 EO 208/23 -).

2. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis nach § 80 Abs. 5 VwGO entfällt nicht deswegen, weil der Antragsteller Inhaber einer Duldung ist.

3. Es besteht keine unionsrechtliche Pflicht zur Erteilung eines Aufenthaltstitels, wenn eine Rückkehrentscheidung, sei es aus zielstaatsbezogenen, sei es aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen, nicht erlassen werden darf. Ob in diesen Fällen ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht und Kettenduldungen ausgeschlossen sind, richtet sich allein nach nationalem Recht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungshindernis, Duldung, Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Suspensiveffekt, Rechtsschutzinteresse, Kettenduldung, Rückkehrentscheidung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123, EMRK Art 8, RL 2008/115/EG Art. 5, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 9, AufenthG § 5, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60a, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG § 81 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 84 Abs. 2 S 2, AsylblG § 1 Abs. 1 Nr. 5 SGB XII § 23 Abs. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

1. Die Einwände der Antragstellerin gegen die Ablehnung des Hauptantrages nach § 123 VwGO führen nicht auf einen im einstweiligen Rechtsschutz sicherbaren Anspruch auf Aushändigung einer Fiktionsbescheinigung.

Diesen hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint, weil die mit der Antragstellung auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis kraft Gesetzes nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG eingetretene Fiktionswirkung mit der Ablehnung des Antrags durch den angefochtenen Bescheid erloschen sei. Zur Begründung hat es auf den Beschluss des Senats vom 30. März 2023 - 4 EO 208/23 - juris verwiesen. In diesem Beschluss hat der Senat bereits entschieden, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen, weil die zunächst mit der Stellung des Antrages auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eingetretene Fiktionswirkung als Voraussetzung für die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung durch Erlass des Bescheides vom 17. November 2023 nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erloschen ist und auch nicht durch eine Aussetzung der Vollziehung wiederaufleben kann. [...]

2. Die Antragstellerin dringt daher auch nicht durch mit ihrem ersten Hilfsantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, festzustellen, dass ihr Aufenthalt bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als erlaubt gelte. [...]

3. Die Beschwerdebegründung führt auch nicht auf einen Erfolg des zweiten Hilfsantrages, nämlich unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis anzuordnen.

3.1 Zwar fehlt dem Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis nach § 80 Abs. 5 VwGO im Hinblick auf die erteilte Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht das Rechtsschutzbedürfnis. [...]

Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den einen Aufenthaltstitel ablehnenden Bescheid nach § 80 Abs. 5 VwGO besteht trotz erteilter Duldung fort, weil die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu einer gegenüber der Duldung verbesserten Rechtsposition führen würde.

Die nach § 60 a AufenthG im Falle einer rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung erteilte Duldung bewirkt die Aussetzung der Vollziehung der fortbestehenden Ausreisepflicht, lässt also die grundsätzliche Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nach § 58 Abs. 2 AufenthG und damit das Gebot, das Bundesgebiet zu verlassen, sowie die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung unberührt [...]. Die bloße Duldung des weiteren Aufenthalts bei fortbestehender Ausreisepflicht ohne Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts legalisiert den Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet daher im Allgemeinen nicht. [...]

Demgegenüber verbessert die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 80 Abs. 5 VwGO die Rechtsposition eines nur geduldeten Ausländers, denn damit entfällt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht [...]. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die abgelehnte Gewährung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels bewirkt, dass aus der Tatsache der Ablehnung des entsprechenden Antrages keine Rechtsfolgen gezogen werden dürfen, auch wenn die Wirksamkeit des ergangenen Bescheides davon unberührt bleibt (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Zwar erlischt das einmal durch die Antragstellung auf Erteilung bzw. Verlängerung nach § 81 Abs. 3 bzw. 4 AufenthG begründete Fiktionsrecht mit der Ablehnung des Antrages durch den ablehnenden Bescheid. Der Ausländer wird damit nach § 50 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zunächst vollziehbar ausreisepflichtig, weil Rechtsmittel dagegen keine aufschiebende Wirkung haben (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Wird aber die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels angeordnet, entfällt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Ausländers gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG.

Dies verbesserte die Rechtsposition eines Ausländers auch deshalb, weil dieser damit nicht (mehr) dem Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes unterfiele [...].

Im Übrigen wäre die Rechtsposition eines Ausländers mit Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage auch deshalb eine bessere, weil er sich auf die in § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geregelte Fiktionswirkung für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit berufen könnte. [...]

Die erteilte Duldung nach § 60 a AufenthG berücksichtigt die - derzeit noch zu bejahenden - Interessen der Antragstellerin an einem weiteren Verbleib in Deutschland wegen der Beistandsgemeinschaft mit ihren hier aufenthaltsberechtigten Kindern mithin hinreichend. Für die Führung eines Privatlebens mit ihren Kindern einschließlich der Ausübung eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses bedarf es keines Aufenthaltstitels [...].

3.2.2. Soweit die Antragstellerin im Schwerpunkt ihrer Beschwerdebegründung vielmehr sinngemäß geltend macht, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Europarecht geboten sei, führt dies nicht auf einen entsprechenden Klärungsbedarf im Hauptsacheverfahren. Sie trägt vor, es sei unzulässig, ihr nur Kettenduldungen trotz fehlender Rückkehrentscheidung zu gewähren, weil ihrer Aufenthaltsbeendigung Gründe nach Art. 5 RL 2008/115/EG entgegenstünden. Eine Rückkehrentscheidung dürfte derzeit nicht ergehen; unionsrechtlich setze eine Duldung jedoch zwingend den Erlass einer vorherigen Rückkehrentscheidung voraus (Art. 9 RL 2008/115/EG). Dies ist unzutreffend.

Der Umstand, dass gegenwärtig keine Rückkehrentscheidung ergangen und aus den in Art. 5 RL 2008/115/EG genannten Gründen gegenwärtig auch keine Pflicht zum Erlass einer Rückkehrentscheidung nach Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG besteht, begründet keine Verpflichtung, das nationale Recht in der Weise auszulegen, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden muss. Nur dann, wenn eine unionsrechtliche Pflicht zum Erlass einer Rückkehrentscheidung besteht, ist ein Mitgliedstaat unionsrechtlich zur Vermeidung eines Zwischenstatus verpflichtet, einen neuen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn er keine Rückkehrentscheidung erlassen will [...]. Dies begründet aber keine unionsrechtliche Pflicht zur Erteilung eines Aufenthaltstitels, wenn keine Rückkehrentscheidung erlassen werden darf, weil eine solche gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde. Dann beurteilt sich die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht, allein nach nationalem Recht. Denn der EuGH hat in seinem Urteil vom 22. November 2022 [...] entschieden, dass sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, diese Richtlinie aber nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich regelt diese Richtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann. Daraus folgt, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden kann, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen aus zielstaatsbezogenen Gründen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann.

Dies ist für den Fall, dass die Beendigung des Aufenthalts - wie hier - nicht aus zielstaatsbezogenen, sondern inlandsbezogenen Gründen nicht erfolgen kann, nicht anders zu beurteilen. Denn die Richtlinie bezweckt generell, und damit auch im Falle inlandsbezogener Abschiebungshindernisse, nicht die Harmonisierung des Aufenthaltsrechts [...].

Da die Frage, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat, sich gegenwärtig allein nach nationalem Recht beurteilt, ist auch nicht ersichtlich, dass im Hauptsacheverfahren eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofes unter Beachtung des Maßstabes des Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Frage der europarechtlichen Zulässigkeit von Kettenduldungen bei inlandsbezogener Unmöglichkeit des Erlasses einer Rückkehrentscheidung einzuholen wäre. [...]