Kindernachzug auch nach Eintritt der Volljährigkeit:
1. Der Kindernachzug zu subsidiär schutzberechtigten Eltern setzt voraus, dass die Minderjährigkeit des nachziehenden Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen hat. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens bei Erreichen der Altersgrenze und bei der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen. Die Voraussetzungen für den Familiennachzug müssen so wenigstens einmal alle zeitgleich erfüllt gewesen sein.
2. Ein humanitärer Grund für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG liegt vor, wenn eine Familientrennung seit zwei Jahren, spätestens seit vier Jahren besteht.
3. Von der Sicherung des Lebensunterhalts kann auch nach Erreichen der Altersgrenze noch abgesehen werden, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet möglich ist.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch VG Berlin, Urteil vom 09.03.2023 - 38 K 919/21 V - asyl.net: M31961)
[...]
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Beteiligung an der Auswahlentscheidung gemäß § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG. [...]
2. Die Klägerin ist auch minderjährig und ledig im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
Mangels abweichender Regelung durch den Gesetzgeber gelten die zum Kindernachzug nach § 20 des Ausländergesetzes (AuslG) und sodann § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei einer gesetzlichen Altersgrenze auch für den Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Elternteil nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG [...]. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese danach im Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zudem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich [...]. Dies soll verhindern, dass das nachzugswillige Kind ein ihm an sich zustehendes Nachzugsrecht wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf verliert – im Interesse der Wirksamkeit der gesetzlichen Schutzfunktion [...].
3. Humanitäre Gründe im Sinne von § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen vor.
Mit der Klägerin ist ein minderjähriges lediges Kind betroffen im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Auch bei der Anwendung dieser Regelung ist aus Gründen des materiellen Rechts für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Beantragung des Visums abzustellen. Auch insoweit handelt es sich um eine – wenn auch nicht in jedem Fall, sondern nur bei Fehlen anderer humanitärer Gründe eingreifende – gesetzliche Altersgrenze für den Anspruch auf Kindernachzug, für die die zu § 20 AuslG und § 32 AufenthG entwickelten Grundsätze gelten. Soweit die 38. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin die Minderjährigkeit im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG als "übrige Voraussetzung" eingeordnet hat, die nach der anzustellenden Doppelprüfung auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder Entscheidung erfüllt sein müsse [...], ist dem nicht zu folgen. Andernfalls könnte das nachzugswillige Kind ein ihm an sich zustehendes Nachzugsrecht doch wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf verlieren, nämlich wenn keine anderen humanitären Gründe eingreifen und die Behörde den Visumsantrag nicht rechtzeitig bearbeitet oder ihn zu Unrecht ablehnt mit der Folge, dass ein gerichtliches Verfahren erforderlich wird. [...]
Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft ist auch "seit langer Zeit" nicht möglich. Weder der Wortlaut von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG noch die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 24) enthalten Anhaltspunkte dafür, welcher Zeitraum als lange Zeit im Sinne der Bestimmung zu verstehen ist. Nach dem Kenntnisstand des Gerichts geht die Beklagte in ihrer Praxis davon aus, dass ab einer Trennungszeit von zwei Jahren eine lange Zeit im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG verstrichen ist. [...]
Auf die Frage, ob die Grenze danach stets oder regelmäßig bei einer Trennungszeit von zwei Jahren zu ziehen ist und ob das auch beim Kindernachzug der Fall ist, kommt es im vorliegenden Fall indes nicht an. Denn die Klägerin und ihre Eltern sind bereits seit einem weitaus längeren Zeitraum getrennt, der in jedem Fall als "lange Zeit" im Sinne von § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG einzuordnen ist – auch nach der Rechtsprechung der 38. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin, die fallgruppenbezogen differenziert und für volljährig gewordene Kinder von einer (Regel-)Frist von vier Jahren ausgeht [...].
4. Von dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes ist nach § 29 Abs. 2 Satz 1, 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 36a Abs. 5 AufenthG abzusehen. [...]
Selbst wenn man wegen der nunmehr eingetretenen Volljährigkeit der Klägerin von einer Nichtanwendbarkeit von § 29 Abs. 2 Satz 1, 2 Nr. 2 AufenthG ausgeht, steht die im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes dem Anspruch der Klägerin auf Beteiligung an der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht entgegen. In diesem Fall war jedenfalls bis zur Volljährigkeit der Klägerin im November 2020 gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1, 2 Nr. 2 AufenthG von der Sicherung des Lebensunterhaltes abzusehen. Anschließend galt und gilt auch jetzt noch eine Ausnahme von der Regel, dass der Lebensunterhalt gesichert sein muss. Eine solche Ausnahme ist nicht nur bei Vorliegen einer Atypik, sondern auch dann anzunehmen, wenn Art. 6 des Grundgesetzes und/oder Art. 8 der EMRK eine Ausnahme gebieten [...]. Insoweit bedarf es einer Abwägung des Interesses an dem Schutz der öffentlichen Kassen mit den gegenläufigen privaten Belangen der Familie und muss die Entscheidung den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Bei der Gewichtung der betroffenen Belange ist dabei auch zu berücksichtigen, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bun-desgebiet verwirklicht werden kann. Danach wäre hier, sollte es darauf ankommen, vom Vorliegen eines Ausnahmefalls auszugehen. [...]
6. Geltend gemacht, dass sie die Beteiligung der Klägerin an der Auswahlentscheidung nach Ermessen verweigern wollen, haben die Beklagte und die Beigeladene zuletzt nicht mehr. Dies wäre auch nicht zulässig. Die Klägerin hat trotz der Ausgestaltung von § 36a AufenthG als Ermessensnorm ("kann") einen Anspruch darauf, an der Auswahlentscheidung gemäß § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG beteiligt zu werden. Das nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG eingeräumte Ermessen ist nach der Gesetzessystematik und dem Normzweck deutlich eingeschränkt. Mit dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147), mit dem § 36a in das Aufenthaltsgesetz eingefügt wurde, sollte der Familiennachzug von Angehörigen der Kernfamilie subsidiär Schutzberechtigter wieder ermöglicht werden, ohne die staatlichen und gesellschaftlichen Aufnahme- und Integrationssysteme, die als noch immer belastet angesehen wurden, zu überfordern. [...]