EuGH - Vorlage zur Einstufung Senegals als sicherer Herkunftsstaat:
1. Die Vorlagefrage betrifft die Auslegung von Anhang l der Richtlinie 2013/32/EU und die Frage, ob der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat entgegensteht, wenn einzelne Personen- oder Bevölkerungsgruppen eines Landes regional oder landesweit von der Gefahr der Verfolgung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung betroffen sind. Der Wortlaut des Anhangs, insbesondere die Formulierung "generell und durchgängig", lässt darauf schließen, dass ein Staat nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden kann, wenn eine Verfolgungsgefahr für einzelne Personen- oder Bevölkerungsgruppen nicht ausgeschlossen werden kann.
2. Im Senegal sind rund 25% der Frauen und Mädchen von der Praktik der Genitalverstümmelung betroffen, die Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen und Kindesmissbrauch sind weit verbreitet, gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sind im Senegal strafbar und mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und Geldstrafe bedroht.
(Leitsätze der Redaktion, siehe auch EuGH, Urteil vom 04.10.2024 - C-406/22 - CV gg. Tschechien - asyl.net: M32819: Einstufung als sicheres Herkunftsland erfordert Sicherheit im gesamten Staatsgebiet)
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Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgelegt:
1. Ist Anhang l der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Richtlinie 2013/32/EU) dahin auszulegen, dass für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat landesweit Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen bzw. Personenkreise bestehen muss,
a) sodass es schädlich ist, wenn nur Angehörige einer bestimmten Gruppe bzw. eines bestimmten Personenkreises, nicht hingegen andere, dieser Gruppe oder diesem Personenkreis nicht angehörende Personen Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Richtlinie 2011/95/EU), Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Strafe oder Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten haben und
b) sodass es schädlich ist, wenn Angehörige einer bestimmten Gruppe oder eines bestimmten Personenkreises nur regional Verfolgung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Strafe oder Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten haben?
2. Für den Fall, dass die Frage zu 1. insgesamt oder teilweise zu bejahen ist: a) Was ist unter einer solchen "Gruppe" bzw. einem solchen "Personenkreis" zu verstehen, wann liegt diese/dieser vor und zählen auch regionale oder lokale Gruppen bzw. Personenkreise und/oder solche mit geringer Mitgliederzahl dazu?
b) Wann haben Angehörige einer solchen "Gruppe" bzw. eines solchen "Personenkreises" Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/98/EU, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Strafe oder Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten (Frage nach dem gruppenbezogenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab bzw. nach der erforderlichen gruppenbezogenen relativen oder absoluten Quantität an entsprechenden Vorkommnissen)?
3. Für den Fall, dass die Frage zu 1. zu verneinen ist: Wie ist die Formulierung "generell und durchgängig" in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU ansonsten zu verstehen?
4. Ist Anhang l der Richtlinie 2013/32/EU dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Stellen des Mitgliedstaates für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum haben, der nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt?
5. Für den Fall, dass die Frage zu 4. zu bejahen ist:
a) Worauf bezieht sich die gerichtliche Überprüfung?
b) Ist es einschätzungsfehlerhaft, wenn mangels entsprechender argumentativer Auseinandersetzung nicht erkennbar ist, warum von der begründeten Einschätzung oder obergerichtlichen Rechtsprechung eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten zu demselben Herkunftsstaat abgewichen wird? [...]
21 3. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich.
22 a) Je nach Beantwortung der Fragen ist mit Blick auf die Lage im Senegal der Asylantrag des Klägers nach der besonderen Prüfungsregel, die mit dem Konzept des sicheren Herkunftsstaates verbunden ist - der widerlegbaren Vermutung des § 29a Abs. 1 AsylG, dass im Herkunftsstaat ein ausreichender Schutz gegeben ist - zu prüfen oder auch nicht. Von der Beantwortung der Fragen hängt also der anzulegende Prüfungsmaßstab des vorlegenden Gerichts ab [...] sowie die Anwendbarkeit des besonderen Normenregimes, das mit dem Konzept des sicheren Herkunftsstaates verbunden ist (etwa Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
23 b) Im Senegal ist folgende Lage vorzufinden:
24 Trotz staatlicher Anstrengungen zur Überwindung des Phänomens und trotz strafrechtlichen Verbots mangels ausreichend wirksamer Strafverfolgung und wegen der tief verwurzelten traditionellen Praktik sind rund 25% der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren Opfer von Genitalverstümmelung. Einige Regionen des Staates weisen dabei die höchsten Prävalenzraten weltweit auf (über 90 % bis fast alle Frauen der jeweiligen Region). [...] Zwangsheirat besonders Minderjähriger ist trotz Verbots auf dem Lande verbreitet [...]. Staatliche Bemühungen, gegen das niedrige Heiratsalter von Mädchen und sexuelle Gewalt und Vergewaltigung vorzugehen, treffen auf Widerstand religiöser und ethnischer Gruppen. Art. 111 des Familiengesetzes legt das gesetzliche Mindestheiratsalter für Mädchen auf 16 Jahre fest, während es für Jungen auf 18 Jahre festgelegt ist, wodurch das Recht der Mädchen auf Gleichberechtigung in der Ehe verweigert wird [...].
25 Eine große Zahl von Kindern in Senegal (Schätzungen gehen von 60. 000 bis ca. 100.000 Kinder von ca. 17 Millionen Einwohnern insgesamt aus) zwischen 3 und 15 Jahren werden von ihren Familien in Koranschulen geschickt (Talibé-Kinder). Diese werden dort in vielen Fällen zum Betteln auf der Straße missbraucht, ohne dass der Staat wirksam dagegen vorgeht oder vorgehen kann […]. Kindesmissbrauch ist nach wie vor weit verbreitet, insbesondere bei Buben, die von ihren Eltern zur Ausbildung in sog. Daaras (religiöse Koranschulen) geschickt wurden. Die Regierung hat es im Jahr 2023 wieder versäumt, den Entwurf des Kindergesetzes und den Entwurf des Gesetzes über den Status der Daaras anzunehmen. Zehntausende dieser Kinder, die als Talibés bekannt sind, leben in extremer Armut, ohne angemessene Nahrung und medizinische Versorgung. Des Weiteren sind Tausende von Talibés Opfer von Menschenhandel. [...]
26 Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sind im Senegal strafbar und mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und Geldstrafe bedroht. Diese Strafvorschriften wurden auch angewendet. Religionsgemeinschaften zeigen keine Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. In der Gesellschaft ist die Diskriminierung von LGBTQI+ eine tiefverwurzelte Realität [...].
27 Die Verfassung sieht vor, dass alle Angeklagten das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren haben, und die Justiz hat dieses Recht im Allgemeinen durchgesetzt, aber willkürliche Verhaftungen und längere Inhaftierungen geben weiterhin Anlass zur Sorge. [...]