Leistungsausschluss für Unionsbürger nur bei vollziehbarer Verlustfeststellung:
Solange die Ausreisepflicht im Verfahren der Verlustfeststellung der Freizügigkeit nicht vollziehbar ist, weil das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat, bleibt die Leistungsberechtigung für Daueraufenthaltsberechtigte gem. § 7 Abs. 1 Satz 4 erster Teilsatz SGB II bestehen. Einen Leistungsausschluss hat die Verlustfeststellung dann nicht bewirkt.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Streitig ist, ob der Beklagte berechtigt ist, Verwaltungsakte über die laufende Bewilligung von Arbeitslosengeld II bzw. Bürgergeld aufzuheben.
Der ... 1987 geborene Kläger besitzt die Staatsbürgerschaft des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland. Er hält sich seit 2014 in der Bundesrepublik Deutschland auf und ist seit dem 1. September 2014 durchgehend in Berlin melderechtlich erfasst. [...]
Beschäftigungen, die in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig waren, ging er von Februar 2015 bis März 2017 nach. Das letzte Arbeitsverhältnis endete durch Aufhebungsvertrag. Anschließend bezog er von Juli bis September 2017 und durchgehend seit November 2017 vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Gestalt von Arbeitslosengeld II. Zuletzt stand er im November 2018, nach Lage der Akten für wenige Tage, in einem Beschäftigungsverhältnis, das durch arbeitgeberseitige Kündigung beendet wurde. Zu einer Unterbrechung des Leistungsbezugs kam es deswegen nicht. [...]
Während des laufenden Bewilligungszeitraums kam es am 13. Dezember 2021 zu einem Gespräch beim Beklagten, in dem der Kläger auf Befragen mitteilte, über keine Aufenthaltserlaubnis zu verfügen. Die Ausländerbehörde habe ihm mitgeteilt, dass er erst dann eine erhalte, wenn er eine Arbeitsstelle habe. Weiter habe er sich um eine Aufenthaltserlaubnis nicht gekümmert. Die Leistungsgewährung wurde daraufhin Mitte Dezember 2021 (ab Januar 2022) zunächst eingestellt, weil der "Aufenthalt" ungeklärt sei, und der Kläger förmlich aufgefordert, einen aktuellen Aufenthaltstitel bis Ende 2021 einzureichen. Noch im Dezember 2021 übersandte der Kläger dem Beklagten Unterlagen, aus denen hervorging, dass er bei der Ausländerbehörde per E-Mail wegen seines Aufenthaltsstatus angefragt und einen Termin dort am 21. April 2022 erhalten hatte.
Nachdem der Kläger eine erweiterte Meldebescheinigung vorgelegt hatte, aus der gemeldete Wohnsitze in Berlin durchgehend ab 1. September 2014 hervorgingen, nahm der Beklagte die Gewährung von Leistungen rückwirkend ab 1. Januar 2022 wieder auf. [...]
Am 20. Januar 2023 übersandte das Landesamt für Einwanderung Berlin dem Beklagten den am 18. Januar 2023 zugestellten Bescheid vom 16. Dezember 2022, durch den es den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, den Antrag des Klägers auf Ausstellung eines Aufenthaltsdokuments GB abgelehnt und die zwangsweise Durchsetzung der Ausreise aus dem Geltungsbereich des FreizügigG/EU angedroht hatte, sofern der Kläger nicht bis zum 6. März 2023 in seinen Herkunftsstaat oder ein anderes Land, in das er einreisen dürfe oder das zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, ausgereist sei. Das Anschreiben des Landesamtes für Einwanderung enthielt in Fettdruck den Satz, "Die Auszahlung der Transferleistungen kann eingestellt werden". Die getroffene Entscheidung zur Verlustfeststellung begründete das Landesamt für Einwanderung unter anderem damit, dass der Kläger nicht mehr freizügigkeitsberechtigt sei. Dafür habe er u.a. nach den Vorschriften des FreizügigG/EU in Verbindung mit denen des Austrittsabkommens (zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union) am 31. Dezember 2020 freizügigkeitsberechtigt gewesen sein müssen. Dies sei nicht der Fall (wird ausgeführt).
Gegen den Bescheid des Landesamtes ist ein Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin noch anhängig (Az. VG 15 K 38/23).
Durch Bescheid vom 26. Januar 2023 hob der Beklagte die Bescheide vom 9. Mai, 1. Dezember und 17. Dezember 2022 mit Wirkung ab 1. Februar 2023 auf. Seine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Absatz 3 FreizügigG/EU sei mit dem Bescheid vom 16. Dezember 2022 "aufgehoben/abgelehnt" worden. [...]
Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid war rechtswidrig und deshalb auf die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) des Klägers hin aufzuheben, wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat.
Als Rechtsgrundlage für den Bescheid kommt nur § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht, der gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II für das (Verwaltungs-) Verfahren nach dem SGB II anwendbar ist [...].
Die materiellen Voraussetzungen für den Erlass des angefochtenen Verwaltungsakts sind dagegen nicht erfüllt. [...]
Die nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderliche wesentliche Veränderung in den für die Leistung erheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen war aber nicht eingetreten. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn ein Verwaltungsakt nach den nunmehr eingetretenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht (mehr) hätte erlassen werden dürfen [...].
Nach diesen Maßstäben ist für den gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers allein entscheidend, dass er sich tatsächlich im Inland aufhält und nicht beabsichtigt, seinen Aufenthalt zu beenden. Die vom Landesamt für Einwanderung Berlin ausgesprochene Verlustfeststellung kann dem Willen des Klägers schon deshalb nicht entgegenstehen, weil die hiermit allein verbundene Wirkung der sofortigen Ausreisepflicht [...] infolge der aufschiebenden Wirkung der Klage vor dem Verwaltungsgericht nicht durchsetzbar ist (§ 80 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO).
Einen Leistungsausschluss hat die Verlustfeststellung ebenfalls nicht bewirkt.
Soweit für den Kläger in Betracht kommend, sind gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Kreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Ausländerinnen und Ausländer ausgenommen, die (a) kein Aufenthaltsrecht haben oder (b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Der Senat kann offen lassen, ob der Kläger, der nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht mehr Unionsbürger ist, nach Maßgabe des § 16 FreizügigG/EU i.V. mit den Bestimmungen des Austrittsabkommens noch ein fortwirkendes Freizügigkeitsrecht oder nach den allgemeinen Bestimmungen des Ausländerrechts ein Aufenthaltsrecht hat [...]. Er ist jedenfalls nach § 7 Abs. 1 Satz 4 erster Teilsatz SGB II leistungsberechtigt. Danach erhalten abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (Satz 5). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (Satz 6). Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt (Satz 7).
Der Kläger hatte die Fünfjahresfrist mit Ablauf des 31. August 2019 und damit noch vor Wirksamwerden des "Brexit" erfüllt, was auch vom Beklagten nicht in Frage gestellt und von ihm jedenfalls den Leistungsbewilligungen ab 1. Juni 2021 ausdrücklich zugrunde gelegt wurde. Er war seit dem 1. September 2014 durchgehend mit einem Wohnsitz in Berlin melderechtlich erfasst und hielt sich seither auch ohne erkennbare nennenswerte Unterbrechungen in der Bundesrepublik Deutschland auf [...].
Die Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 letzter Teilsatz SGB II ist nicht eingetreten. Danach gilt die leistungsrechtliche Privilegierung infolge verfestigten Aufenthalts nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU festgestellt wurde.
Allein dass eine solche Verlustfeststellung, die aufgrund des gemäß § 16 Abs. 4 FreizügigG/EU entsprechend anwendbaren § 5 Abs. 4 FreizügG/EU auch gegenüber den vom Austrittsabkommen betroffenen Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs ausgesprochen werden kann, gegenüber dem Kläger verfügt wurde, reicht jedoch nicht aus, um die Wirkung der leistungsrechtlichen Privilegierung nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Erster Teilsatz SGB II zu beseitigen. [...]
Nach dem sich aus den Gesetzesmaterialien ergebenden Sinn und Zweck des Gesetzes muss die Verlustfeststellung mindestens vollziehbar sein, was hier an der aufschiebenden Wirkung des § 80 VwGO scheitert. [...]
Schließlich heißt es: "Sollte die Ausländerbehörde allerdings feststellen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Absatz 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ist der Aufenthalt nicht mehr verfestigt. Die Personen sind nach § 7 Absatz 1 Satz 1 FreizügG/EU zur Ausreise verpflichtet."
Wenn sich aber die Gegenausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 letzter Teilsatz SGB II dadurch begründet, dass die betroffenen Personen zur Ausreise verpflichtet sind, dann trifft diese Begründung jedenfalls so lange nicht zu, wie die Ausreisepflicht gerade nicht durchsetzbar ist, weil sie im Klageweg angegriffen wird, und die Ausländerbehörde selbst keinen Anlass sieht, die sofortige Vollziehung anzuordnen. [...]