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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 15.11.2024 - 20 K 74/23 A - asyl.net: M32917
https://www.asyl.net/rsdb/m32917
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft: 

Personen, die für das afghanische Rechtssystem vor der Machtübernahme der Taliban tätig waren, sind ernsthaften Sicherheitsrisiken ausgesetzt. Ehemalige Mitarbeitende des Justizsystems sind von Hausdurchsuchungen, Schikanen, Morddrohungen und Tötungen betroffen, insbesondere ehemalige Richter*innen leben im Untergrund oder haben Afghanistan verlassen. Darüber hinaus sind Fälle bekannt geworden, in denen von den Taliban freigelassene Straftäter*innen versuchen, Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Staatsanwält*innen und Richter*innen zu verüben.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, politische Verfolgung, Berufsgruppe, Staatsanwaltschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend liegen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung bei dem Kläger vor. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Taliban wegen der aufgrund seiner bisherigen beruflichen Tätigkeit bestehenden Nähe zur ehemaligen Regierung und einer ihm vor diesem Hintergrund zugeschriebenen politischen Überzeugung.

Die Einzelrichterin ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt ausgereist ist. Danach steht zunächst fest, dass der Kläger in leitender Position bei der Generalstaatsanwaltschaft tätig war.

Konnte noch nach den im Anhörungsprotokoll des Bundesamtes festgehaltenen Angaben des Klägers der Eindruck entstehen, er habe bei der Staatsanwaltschaft eine untergeordnete Tätigkeit als Sachbearbeiter ausgeübt, haben seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung ein klareres und überzeugendes Bild dahingehend ergeben, dass der Kläger zwar in seiner Heimatprovinz ... zunächst mit Verwaltungstätigkeiten wie der Dokumentation und Sicherstellung beschlagnahmter und in Verwahrung genommener Gegenstände der Gefangenen betraut war, ab dem Jahr 2019 jedoch eine leitende Position in der Generalstaatsanwaltschaft in Kabul bekleidete. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und plausibel geschildert, dass er sich - nachdem er zwischenzeitlich im Jahr 2017 einen Studienabschluss in der (einheitlichen) Fachrichtung Wirtschaft und Jura erworben hatte - im Jahr 2019 erfolgreich auf eine Stellenausschreibung bei der Generalstaatsanwaltschaft in Kabul beworben hat. Er habe die dortige Aufnahmeprüfung bestanden; zudem habe sich sein Vater, der ebenfalls Staatsanwalt gewesen sei und über entsprechende Kontakte in der Generalstaatsanwaltschaft verfügt habe, für ihn verwendet. Er habe hiernach im Zuständigkeitsbereich der südlichen Zone eine administrative Leitungsposition innehatte. Der Kläger hat stringent und detailliert seine Tätigkeit beschrieben, die insbesondere darin bestand, die eingehenden Verfahren zu sichten, auf ihre Vollständigkeit hin zu überprüfen, sie hiernach zur Bearbeitung einem der 80 Staatsanwälte zuzuleiten und auf der Grundlage der an ihn zurückgereichten Ermittlungsberichte u.a. Haftentscheidungen zu treffen oder Geldstrafen festzusetzen. Der Umstand, dass die klassische Tätigkeit einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwaltes in Deutschland anders strukturiert sein mag und einen Aufgabenbereich in der Art und Weise, wie er von dem Kläger beschrieben worden ist, nicht kennt, steht dem nicht entgegen. Der Kläger konnte überdies spontan und ohne zu zögern seinen Vorgesetzten namentlich benennen, der - wie er glaubhaft ergänzte - ebenso wie weitere Mitarbeiter dieser Sektion der Generalstaatsanwaltschaft über das Bundesaufnahmeprogramm ein Visum erhalten hat und nunmehr in Deutschland lebt. [...]

Das von dem Kläger geschilderte fluchtauslösende Geschehen fügt sich in die Erkenntnismittellage ein. Die eingeführten Berichte gehen übereinstimmend davon aus, dass bei Richtern, Staatsanwälten und ehemaligen Gerichtsangestellten grundsätzlich eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist [...]. Bereits während der Jahre des Konflikts gerieten Justizangehörige, darunter Richter und Staatsanwälte, regelmäßig ins Visier der Taliban. Nach der Machtübernahme im August 2021 blieben ehemalige Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger größtenteils vom De facto-Justizsystem ausgeschlossen. [...] Berichten zufolge sind Mitarbeiter des ehemaligen Justizsystems Hausdurchsuchungen, Schikanen, Morddrohungen und Tötungen ausgesetzt. Viele Staatsanwälte und Richter, insbesondere Richterinnen, leben im Untergrund oder haben Afghanistan verlassen. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) bezeichnete die Situation des ehemaligen Justizpersonals als besonders besorgniserregend. Darüber hinaus sind Fälle bekannt geworden, in denen von den Taliban freigelassene Straftäter Vergeltungsmaßnahmen gegen Staatsanwälte und Richter, die sie verurteilt haben, zu verüben versuchen. Familienangehörige, Freunde und Nachbarn sollen gedrängt worden sein, den Aufenthaltsort von Richtern preiszugeben [...].