Ausnahmen vom Spracherfordernis beim Ehegattennachzug:
1. Die Ausnahmen vom Spracherfordernis des nachziehenden Ehegatten des § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind nur anwendbar, wenn der stammberechtigte Ehegatte eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder 2, § 26 Absatz 3, § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 4 AufenthG besitzt. Hat der stammberechtigte Ehegatte eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund eines Abschiebungsverbots, sind die Ausnahmen nicht anwendbar.
2. Eine kognitiv bedingte Unmöglichkeit des Erwerbs von Sprachkenntnissen muss nachgewiesen werden. Analphabetismus allein ist nicht ausreichend für das Absehen vom Spracherfordernis.
3. Für den Ausnahmegrund des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG müssen ernsthafte Bemühungen zum Spracherwerb wenigstens für den Zeitraum eines Jahres nachgewiesen werden. Ernsthafte Bemühungen sind nachgewiesen, wenn ein Sprachkurs auch die individuellen Bedürfnisse, wie besondere Lernschwierigkeiten, berücksichtigt.
4. Ob die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft allein einen humanitären Grund im Sinne des § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG darstellt und so den Familiennachzug auch für Inhaber*innen eines Abschiebungsverbots eröffnet, ist zweifelhaft.
(Leitsätze der Redaktion, Siehe dazu auch VG Berlin, Urteil vom 24.05.2024 - 6 K 130/23 V - asyl.net: M32647)
[...]
17 Eine der Voraussetzungen des Ehegattennachzugs ist, dass der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 9 AufenthG). Dies ist bei der Klägerin unstreitig nicht der Fall, sie beansprucht vielmehr für sich einen Ausnahmegrund. [...]
19 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Verpflichtung des Ehegatten eines in Deutschland lebenden Ausländers, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können, nicht gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG [...]. Die Verhältnismäßigkeit der Regelung ist vielmehr insbesondere seit der Einführung der Härtefallregelung des § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 AufenthG zum 1. August 2015 gewahrt [...]. Damit werden auch unionsrechtliche Anforderungen erfüllt [...].
21 2. Keiner der in § 30 Abs. 1 S. 3 AufenthG abschließend aufgezählten Ausnahmegründe liegt vor. Insbesondere sind die Voraussetzungen der § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 6 AufenthG nicht erfüllt.
22 a) [...] Die erste der - kumulativ zu erfüllenden - Voraussetzungen ist nicht erfüllt. Der Ehemann der Klägerin hat keinen der aufgeführten Aufenthaltstitel, er ist vielmehr aufgrund der Feststellung eines Abschiebungsverbots im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. [...]
24 Dass die aufgeführten Erkrankungen [...] dem Spracherwerb entgegenstehen, lässt sich den genannten Attesten gerade nicht entnehmen, vielmehr ergibt sich aus den Attesten lediglich, dass die Erkrankungen den Spracherwerb erschweren. So heißt es in dem Attest einer iranischen Fachärztin für Psychiatrie vom ... 2022: "Des Weiteren führten Depressionen und Nebenwirkungen eingenommener Medikamente zu Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen sowie Lernschwierigkeiten. Es wird ersucht, ihr größtmögliche Unterstützung zu gewähren."
25 Eine kognitiv bedingte Unmöglichkeit des Erwerbs von Sprachkenntnissen ist ebenfalls nicht nachgewiesen. [...]
26 Auch die Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter und damit verbundene Schwierigkeiten reichen für die Annahme einer Unmöglichkeit und eine daher begründeten Ausnahme vom Spracherfordernis nach § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AufenthG nicht aus [...]
27 c) Indes sind – unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles – die Voraussetzungen des Ausnahmegrundes des § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 6 AufenthG nicht erfüllt.
28 Dies ist dann der Fall, wenn es dem nachziehenden Ehegatten auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen. Eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne liegt auch vor, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sind [...].
29 Dabei geht das Gericht zugunsten der Klägerin davon aus, dass der Spracherwerb für sie mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese besonderen Schwierigkeiten entbinden sie aber nicht davon, den Spracherwerb wenigstens ernsthaft für den Zeitraum eines Jahres zu versuchen und den Versuch nachzuweisen. Dies ist nicht geschehen. Der im Jahr 2019 / 2020 besuchte Kurs ist aufgrund der inzwischen verstrichenen Zeit nicht mehr zu berücksichtigen, zudem scheint er als Gruppenkurs nicht auf die besonderen Bedürfnisse der Klägerin als Analphabetin mit Lernschwierigkeiten eingegangen zu sein. Der zweite Kurs, hinsichtlich dessen ebenfalls nicht bekannt ist, ob er auf die besonderen Bedürfnisse der Klägerin eingegangen ist, wurde wegen eines Krankenhausaufenthaltes abgebrochen.
30 Der zuletzt absolvierte (dritte) Kurs [...] scheint hingegen als Individualunterricht auf die besonderen Bedürfnisse der Klägerin eingegangen zu sein und somit bei der Prüfung des ernsthaften Bemühens zu berücksichtigen sein. Dies gilt jedenfalls in Verbindung mit der Unterstützung der Klägerin durch ihre Kinder, die diese in der mündlichen Verhandlung anschaulich demonstrierten. Somit ist für den Zeitraum von ... 2022 – ... 2023 (6 Monate) von einem ernsthaften Bemühen der Klägerin um den Spracherwerb auszugehen.
32 Die Anforderung ist auch für die Klägerin nicht unverhältnismäßig. In Ergänzung der obigen Ausführungen ist zu berücksichtigen, dass der Klägerin seit Dezember 2015 (Anmeldung des Schutzbedarfes der Familienmitglieder in Deutschland) bzw. jedenfalls seit November 2017 (Schutzgewähr für Familie der Klägerin) die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens in Deutschland und daher der praktische Nutzen von Deutschkenntnissen bewusst gewesen sein musste.
33 3. Danach bedarf es keiner Beantwortung der des Weiteren in der mündlichen Verhandlung aufgeworfenen Frage, ob der Erteilung des Visums zudem die Regelung des § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG entgegensteht.
34 Danach darf die Aufenthaltserlaubnis dem Ehegatten eines Ausländers, der - wie der Ehemann der Klägerin - eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG hat, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden. [...]
37 b) Zudem erscheint der erkennenden Einzelrichterin zweifelhaft, ob ein humanitärer Grund tatsächlich schon dann vorliegt, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet gelebt werden kann.
38 In diesem Fall liefe nämlich die Regelung des § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG weitgehend leer. Dass es um die Herstellung der familiären bzw. ehelichen Lebensgemeinschaft geht, ist dem Familiennachzug offensichtlich immanent. Ebenso ergibt sich aber aus der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG an das stammberechtigte Familienmitglied, dass diesem ein Leben außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so dass dieser die familiären bzw. ehelichen Lebensgemeinschaft gerade immer nur im Bundesgebiet führen kann [...].
39 Auch der systematische Vergleich mit der Regelung des § 36a Abs. 3 S. 1 AufenthG und der dazu entwickelten Rechtsprechung zeigt, dass allein der Umstand, dass die eheliche Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet geführt werden kann, nicht zwingend die Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug gebietet, vielmehr sind regelmäßig Wartezeiten zumutbar. [...]