Homosexuellen Frauen droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung:
1. Obwohl Art. 489 des Marokkanischen Strafgesetzbuchs homosexuelle Handlungen von Männern und Frauen unter Strafe stellt, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer staatlichen Verfolgung homosexueller Handlungen von Frauen auszugehen. Das Gericht lehnt sich dabei an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum body-count an, nach der ein Risiko von 1:800 unbeachtlich ist. Das Risiko einer Verfolgung von Frauen ist so verschwindend gering, dass eine relevante Gefahr nicht festgestellt werden kann.
2. Ein besonders exponiertes Verhalten der Klägerin hinsichtlich ihrer Homosexualität ist nicht ersichtlich. Sie geht zurückhaltend mit ihrer Homosexualität um, was deutlich gegen den Wunsch nach einer öffentlich ausgelebten Homosexualität spricht.
(Leitsätze der Redaktion; Anders: VG Saarland, Urteil vom 27.01.2023 - 3 K 1165/22 (Asylmagazin 5/2023, S. 165 f.) - asyl.net: M31414)
[...]
Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG scheidet aus, weil den Klägern in Marokko nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund eine flüchtlingsrelevanten Merkmals zu befürchten hat.
Soweit die Klägerin zu 1 ich auf ihre Homosexualität beruft, ist sie deswegen auch nach ihrem eigenen Vortrag nicht vorverfolgt. Selbst der Schwager - der kurz vor der Ausreise von der Homosexualität erfahren haben soll - hat sie lediglich hiermit erpresst, um das Haus zu erhalten. Er hat ihr zwar mit der Bekanntmachung bei der Polizei gedroht, diese Drohung aber ersichtlich nie umgesetzt. Eine Verfolgung durch irgendwelche staatlichen Organe behautet die Klägerin zu 1 selbst nicht. [...]
Der Klägerin zu 1 droht auch nicht wegen ihrer Homosexualität Verfolgung in Marokko. [...]
Eine Verfolgung ist hier auch insbesondere nicht darin zu erblicken, dass homosexuelle Handlungen nach Art. 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches [...] sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe gestellt werden und Haftstrafen von 6 Monate bis 3 Jahren, Geldstrafen von 200 bis 1000 Dirham verhängt werden können [...]. Die rein abstrakte Strafandrohung, ohne dass der Antragsteller selbst mit dem Staat insoweit jemals in Konflikt geraten ist, begründet noch keine Verfolgung. Dies gilt auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs [...].
Dies erlaubt freilich die Feststellung, dass Homosexuelle in Marokko eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG bilden. Denn das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind [...].
Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher stellt indes keine Verfolgungshandlung dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar [...] Macht ein Asylbewerber geltend, dass in seinem Herkunftsland Rechtsvorschriften bestünden, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, haben die nationalen Behörden im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände alle das Herkunftsland betreffenden relevanten Tatsachen einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, zu prüfen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden insbesondere ermitteln, ob im Herkunftsland des Asylbewerbers die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehene Freiheitsstrafe in der Praxis verhängt wird. Im Licht dieser Hinweise haben die nationalen Behörden zu entscheiden, ob der Asylbewerber tatsächlich Grund zu der Befürchtung hatte, nach der Rückkehr in sein Herkunftsland verfolgt zu werden [...].
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Freiheitsstrafe aufgrund der benannten Normen in Marokko tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verhängt wird, sodass die Klägerin zu 1 Grund zu der Befürchtung gehabt hätte, verfolgt zu werden [...].
Die Erkenntnislage stellt sich wie folgt dar: Die sexuelle Selbstbestimmung wird durch das generelle Verbot außerehelicher einvernehmlicher sexueller Beziehungen sowie durch die generelle Kriminalisierung der Homosexualität stark eingeschränkt. Gerade in größeren Städten existiert jedoch eine lebhafte Subkultur und im Privaten gelebte sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität wird toleriert. Offen gelebte sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität kann jedoch mit Haft- oder Geldstrafen zwischen 20 und 120 Euro belegt werden. Sollten Personen politisch in Ungnade fallen, kann über Vorwürfe wegen angeblicher sexuelle Belästigung und Homosexualität gegen sie vorgegangen werden [...]. Homosexualität bzw. einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen stehen weiterhin unter Strafe. [...] Im Rahmen der Strafrechtsreform wurde diskutiert, die Strafbarkeit homosexueller Handlungen abzuschaffen; dies wird jedoch von der PJD und von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Wie auch außerehelicher Geschlechtsverkehr , so wird auch Homosexualität, die im Verborgenen gelegt wird, nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt - in der Regel auf Anzeige von Familien oder Nachbarn [...].
Auch im Übrigen ergeben die Erkenntnismittel keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung durch den Staat. Allgemein gilt nach den Erkenntnismitteln für Marokko, dass die Verfolgung überwiegend nicht vom Staat ausgeht , sondern - vergleichbar mit anderen muslimisch geprägten Ländern wie beispielsweise Algerien - vor allem gesellschaftliche Kräfte sich gegen Homosexuelle und die LGBT-Gemeinschaft richten, ohne dass es genauere Erkenntnisse zu Übergriffen, Diskriminierungen oder Anfeindungen gäbe.
So ist einem Bericht des Home Office des Vereinigten Königreiches zu der Frafge der Verhältnisse für Homosexuelle in Marokko zu entnehmen, dass, obwohl anscheinend von Anklagen in einer Vielzahl nationaler und internationaler medialer Veröffentlichungen berichtet wird, diese nur von geringer Zahl sind und anscheinend nicht der allgemeinen Ansicht widersprechen, dass das Gesetz selten angewandt wird.
Es erscheint zudem so, dass wenn das Gesetz angewandt wird, es nur Fälle von Männern betrifft, die gleichgeschlechtliche Handlungen vornehmen; es wird nur selten, wenn überhaupt, bei Frauen angewandt, die gleichgeschlechtliche Handlungen vornehmen. Jenseits der Anwendung von Artikel 489 des Strafgesetzbuches legen die Erkenntnisse nicht nahe, dass der marokkanische Staat Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft verfolgt. Da das Gesetz nur selten angewandt wird, erreicht es nicht die Schwelle einer allgemein beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung [...].
Die gegenteilige Auffassung in Teilen der Rechtsprechung [...] verkennt aus Sicht des erkennenden Gerichts den anzulegenden Maßstab.
Es genügt nämlich - anders als diese Gerichte (anscheinend) meinen - nicht, dass die Freiheitsstrafe überhaupt verhängt wird. Dies ist nur die Mindestschwelle, ab der eine staatliche Verfolgungshandlung durch eine Strafverfolgung angenommen werden kann. Dies wird durch den Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, indem er die staatliche Verhängung von Freiheitsstrafen als Verfolgungshandlung bezeichnet, dann aber sich eingehend mit der Frage der tatsächlichen Gefahr dieser Verfolgung im Falle der unverfolgten Ausreise und dem etwaigen - nach dem Gerichtshof zu verneinenden - Erfordernis eines Verheimlichens der Homosexualität auseinandersetzt [...].
Weiterhin ist daher - wie bei jeder anderen Verfolgung auch - auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit [...] der Verfolgung [...] notwendige Voraussetzung.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Verfolgung lässt sich anhand der Erkenntnislage selbst bei großzügigster Auslegung nicht annehmen. In Marokko leben 37,5 Millionen Menschen. Nach allgemeiner statistischer Erfahrung dürften hiervon 5-10 % homosexuell oder bisexuell orientiert sein. Die Erkenntnismittel gehen jedenfalls von einem Anteil von ca. 3-4 % Homosexueller an der Gesamtbevölkerung Marokkos [...] aus. Selbst wenn man mit diesen Erkenntnissen von einer geringen Zahl von nur 1 bis 2 Millionen Homosexuellen in Marokko ausgeht, genügen die festgestellten Verfolgungen durch den Staat in keiner Weise dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
Zwar gibt es keine genauen Zahlen über die Verurteilung wegen homosexueller Handlungen in Marokko, zumal zu einer Freiheitsstrafe. Das marokkanische Justizministerium hat 2011 berichtet, dass es in 2011 zu 81 Gerichtsverfahren aufgrund von homosexuellen Handlungen kam [...].
Im April 2016 erregte der Fall eines homosexuellen Paares in Beni Mellal großes Aufsehen. Die Männer wurden zu vier Monaten Haft bzw. einer Bewährungsstrafe wegen homosexueller Handlungen verurteilt, nachdem sie von selbst ernannten Sittenwächtern in ihrem Haus zusammengeschlagen und dann der Polizei übergeben wurden. Zwei der fünf Angreifer wurden nach Revision ebenfalls zu vier bis sechs Monaten Haft verurteilt [...].
Für die Verfolgung von homosexuellen Frauen ist gar nur ein Fall überhaupt bekannt: Laut mehrfacher medialer Berichterstattung seien zwei Mädchen (16 und 17 Jahre alt) am 9. Dezember 2016 freigesprochen worden, nachdem sie beschuldigt worden waren, sich auf einem Dach "umarmt und geküsst" zu haben [...].
Die Berichte des US State Departments gehen davon aus, dass Homosexuelle im Jahr 2013 mindestens zweimal und in den Jahren 2014 bis 2016 je mindestens einmal angeklagt wurden [...]. In den folgenden Jahren weisen die Berichte des US State Departments darauf hin, dass nach einem Bericht der marokkanischen Behörden im Jahr 2018 170 Personen wegen gleichgeschlechtlicher Aktivitäten angeklagt wurden [...]. Im Jahr 2019 waren es 122 Personen [...], für das Jahr 2020 wird keine Personenzahl genannt [...] und im Jahr 2021 seien es 283 Personen gewesen, die angeklagt worden seien [...].
In Anbetracht dieser Sachlage kann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der staatlichen Verfolgung nicht bejaht werden. Dabei kann es offenbleiben, ab welcher Quantität von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auszugehen ist. Das Gericht sieht zwar keinen Grund, den insoweit anzulegenden Maßstab grundsätzlich zu klären, lehnt sich aber insoweit an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu sog. bodycount bzw. zur Gruppenverfolgung [...] an, nach der jedenfalls ein Risiko von 1:800 unbeachtlich ist [...]. Bei wenigstens 1 Million Homosexueller in Marokko ist eine Zahl von schlimmstenfalls 283 strafrechtlicher Verfahren [...] verschwindend gering und dementsprechend auch das Risiko einer Verfolgung von verschwindend geringem Gewicht [...]. Dies gilt erst recht für die Klägerin zu 1. Denn strafrechtliche Verfolgungen von homosexuellen Frauen sind fast gar nicht bekannt bzw. den Erkenntnismitteln zu entnehmen. Das Schwergewicht fällt vielmehr evident auf homosexuelle Männer. Soweit einzelne Verwaltungsgerichte darauf hinweisen, dass die Zahl der Verurteilungen (und ggf. verhängten Strafen) in Marokko statistisch nicht erfasst werde, führt das gerade nicht zur Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, sondern legt vielmehr offen, dass eine entsprechende hinreichende Gefahrendichte nicht feststellbar ist. Das Gericht geht dabei nicht davon aus, dass der Klägerin zu 1 zuzumuten wäre, sich "diskret" zu verhalten. Es ist aber auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin besonders exponiert wäre oder sich besonders exponieren würde. Zwar schildert sie in der mündlichen Verhandlung, dass sie froh sei, dass sie in Deutschland ihre Beziehung zu einer Frau nicht habe geheim halten müssen. Indes sind öffentliche oder exponierte Aktivitäten der Klägerin insoweit weder dargetan noch ersichtlich. Vielmehr schildert die Klägerin selbst das Ganze zurückhaltend. [...] Der Gesamteindruck zeichnet danach eine zurückhaltend mit ihrer Homosexualität umgehende Klägerin, was deutlich gegen eine gewünschte oder tatsächliche öffentlich wirksam ausgelebte Homosexualität streitet. [...]