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VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 09.12.2024 - 5 B 119/24 - asyl.net: M32947
https://www.asyl.net/rsdb/m32947
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel im griechischen Aufnahmesystem trotz großer materieller Not: 

1. Ein erheblicher Anteil der in Griechenland anerkannt Schutzberechtigten ist zwar für die ersten sechs Monate nach ihrer Rückkehr von großer materieller Not bedroht, weil sie bei der Suche nach einer Unterkunft oder einer Erwerbstätigkeit nicht unterstützt werden und auch keine Sozialleistungen erhalten. Diese Defizite erreichen jedoch nicht für alle anerkannt Schutzberechtigten die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, die eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK durch eine systemische Schwachstelle darstellt. 

2. Eine beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Tatsachenrevision ist allein kein ausreichender Grund für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Aussetzung der Abschiebungsanordnung. Andernfalls hätte eine anhängige Tatsachenrevision nach § 78 Abs. 8 AsylG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung jeder Klage zur Folge, die während ihrer Dauer erhoben wird. Ein solches Vorgehen entspricht nicht dem Sinn und Zweck der Tatsachenrevision, die die Rechtsprechung vereinheitlichen und die Verfahren beschleunigen soll. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, systemische Mängel, Revision, Suspensiveffekt, Tatsachenrevision,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 78 Abs. 8 AsylG, AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsandrohung nach Griechenland. [...]

Nach einer Auswertung der EURODAC-Datenbank gewährte Griechenland dem Antragsteller am ... September 2023 internationalen Schutz; die dortige Asylantragstellung datierte auf den ... Januar 2023.

Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom ... Oktober 2024 den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen [...].

Der [...] zulässige Antrag ist nicht begründet. [...]

Unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel liegen nach summarischer Prüfung keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller, der sich drei Jahre in Griechenland aufgehalten hat, im Falle seiner Überstellung nach Griechenland unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen angesichts der dort vorzufindenden Lebensbedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Situation extremer materieller Not ausgesetzt sein wird [...].

Das griechische Aufnahmesystem weist in Bezug auf zurückkehrende international anerkannt Schutzberechtigte in mehreren Bereichen erhebliche Defizite auf. Für sie ist zumindest in den ersten sechs Monaten nach Rückkehr der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen unabhängig von ihren Bemühungen mit sehr großen Schwierigkeiten verbunden. Nach einer Rückführung nach Griechenland, die in der Regel nach Athen erfolgt, erhalten anerkannt Schutzberechtigte kaum Hilfestellung, insbesondere beim Beschaffen erforderlicher Dokumente wie Aufenthaltserlaubnis, Steueridentifikationsnummer (AFM) und Sozialversicherungsnummer (AMKA). Für sie bestehen bei der Suche nach einer Unterkunft verschiedene bürokratische und tatsächliche Hindernisse. Sie haben zwar unter denselben rechtlichen Voraussetzungen Zugang zu Wohnraum wie griechische Staatsangehörige und alle sich legal in Griechenland aufhaltende Drittstaatsangehörige. Die lückenhaften staatlichen Maßnahmen zur Bewältigung der besonderen Wohnungsprobleme hindern Personen mit internationalem Schutzstatus daran, ihre Rechte wahrzunehmen. Erschwerend kommen Einschränkungen in der sozialen Wohnungspolitik hinzu. Trotz der Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden, bildet Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen in Athen jedoch kein augenscheinliches Massenphänomen. Soweit anerkannt Schutzberechtigte ein Obdach finden, ist dies auch auf die Bildung von eigenen Strukturen und Vernetzungen innerhalb der jeweiligen Landsleute zurückzuführen, über die informelle Unterkünfte gefunden werden können. So sind eine Reihe herbergsartige Unterkünfte für Landsleute entstanden. Durch das Anwachsen sozialer Strukturen unter den anerkannt Schutzberechtigten ist die Obdachlosigkeit zurückgedrängt worden. Anerkannt Schutzberechtigte müssen in Griechenland nach ihrer Anerkennung weitgehend selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Sie sind daher auf den Erhalt einer Arbeit angewiesen. Der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt gestaltet sich als schwierig, sodass sie für eine Übergangszeit auf eine Arbeit im Bereich der Schattenwirtschaft zu verweisen sind. Für viele anerkannt Schutzberechtigte bereitet die Deckung ihrer Grundbedürfnisse große Probleme. Sie haben in Griechenland rechtlich in gleichem Maße Zugang zu medizinischer Versorgung wie griechische Staatsangehörige, wobei das erforderliche Vorhandensein der AMKA sowie auch die Sprachbarriere Probleme bereiten können [...].

Insgesamt ist jedoch nicht ersichtlich, dass Griechenland generell und dauerhaft nicht bereit ist, anerkannt Schutzberechtigte wiederaufzunehmen. Ein erheblicher Anteil der anerkannt Schutzberechtigten ist zwar für die ersten sechs Monate nach ihrer Rückkehr von großer materieller Not bedroht, weil der griechische Staat sie weder bei der Suche nach einer angemessenen Unterkunft noch bei der Suche nach einer Erwerbstätigkeit unterstützt und auch keine Hilfestellung durch die Gewährung von staatlicher Unterstützung in Form von Sozialleistungen bietet. Diese Defizite erreichen allerdings nicht für alle anerkannt Schutzberechtigten die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, die eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 4 EGRCh und Art. 3 EMRK durch eine systemische Schwachstelle begründet [...].

[...] entgegen der Annahme des Antragstellers ist auch nicht im Hinblick auf die beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Tatsachenrevision (- 1 C 18.24 -) aufgrund der vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof gemäß § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG zugelassenen Revision dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stattzugeben und die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. [...]

Die Zulassung der Revision durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof beruht nicht etwa auf eigenen oder fremden Zweifeln an der Richtigkeit des bezeichneten Urteils, sondern allein darauf, dass der Gerichtshof die allgemeine asyl-, abschiebungs- bzw. überstellungsrelevante Lage in Griechenland abweichend von anderen Oberverwaltungsgerichten beurteilt. Eine solche abweichende Beurteilung und im Gefolge eine laufende Tatsachenrevision beim Bundesverwaltungsgericht gebieten jedoch für sich genommen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der in Streit stehenden Abschiebungsandrohung. Sähe man dies anders, hätte eine anhängige Tatsachenrevision nach § 78 Abs. 8 AsylG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung jeder Klage zur Folge, die während ihrer Dauer erhoben wird. Zu einem solchen Vorgehen besteht in dieser Pauschalität jedoch auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Tatsachenrevision kein Anlass. Dieser Zweck liegt darin, die Rechtsprechung in Asylsachen zu vereinheitlichen und Rechtsklarheit für das Bundesamt und die Gerichte der unteren Instanzen zu schaffen, was zu einer Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren und damit zu einer Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit führen soll [...]. Dies wird nicht schon dadurch verfehlt, dass nicht in sämtlichen Eilrechtsschutzverfahren die Vollziehung der betroffenen Bescheide ausgesetzt wird. Aus dem großen Kreis von Verfahren, auf die sich eine Revisionsentscheidung nach § 78 Abs. 8 AsylG auswirken kann, stellen solche, in denen die erhobene Klage gemäß § 75 AsylG keine aufschiebende Wirkung entfaltet, nur einen Ausschnitt dar. Bei Klageverfahren, in denen eine aufschiebende Wirkung besteht, mag eine Aussetzung entsprechend § 94 VwGO naheliegen. Jenen Fällen, in denen keine aufschiebende Wirkung besteht, liegt jedoch eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung zugrunde, mit der einer Abschiebung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens prinzipiell Vorrang eingeräumt wurde. Dieser Vorrang endet erst dort, wo die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung im Sinne des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ernstlich zweifelhaft ist. Dass der Gesetzgeber mit der Einführung der Tatsachenrevision in diesen Maßstab eingreifen wollte, ist nicht ersichtlich. [...]