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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 08.11.2024 - A 10 K 2788/24 - asyl.net: M32959
https://www.asyl.net/rsdb/m32959
Leitsatz:

Zur Auslegung des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG: 

"1. § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG enthält drei Fälle: (1) eindeutig unstimmige und widersprüchliche Angaben, (2) eindeutig falsche Angaben und (3) offensichtlich unwahrscheinliche Angaben. Die weitere Anforderung, dass Angaben "im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftsinformationen stehen" bezieht sich nur auf den dritten Fall der offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben (Anschluss an VG Hamburg, Beschluss vom 14. Mai 2024 – 5 AE 1954/24 –, juris Rn. 34).

2. Der erste Fall betrifft die (innere) Glaubhaftigkeit des Vortrags an sich. Es kann sich hier vor allem auch um Aussagen handeln, die sich nach den Herkunftslandinformationen so zugetragen haben könnten, die aber unglaubhaft vorgetragen sind.

3. Der zweite Fall betrifft falsche Aussagen, die sich vom ersten Fall dadurch unterscheiden, dass es hier nicht auf die Glaubhaftigkeit der Aussage ankommt, sondern auf den objektiven Aussagegehalt. Hiervon sind vor allem auch Lügen erfasst, also etwa Aussagen über Sachverhalte, die sich nach den Herkunftslandinformationen grundsätzlich so zugetragen haben könnten, sich aber offensichtlich nicht so zugetragen haben.

4. Der dritte Fall betrifft bspw. glaubhaft vermittelte Aussagen über Geschehnisse, bei denen es erfahrungsgemäß bzw. unter Abgleich mit den Herkunftslandinformationen offensichtlich unwahrscheinlich ist, dass sie sich so zugetragen haben. Der Nachweis einer Falschaussage ist aber nicht zwingend notwendig, gegebenenfalls auch de facto nicht möglich.

5. § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst auch den Fall, dass falsche bzw. gefälschte Beweismittel vorgelegt wurden (Anschluss an VG Bremen, Beschluss vom 06.09.2024 – 6 V 2139/24 –, BeckRS 2024, 23041 Rn. 18)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Türkei, Kurden, Beweismittel, Fälschung, unstimmige und widersprüchliche Angaben
Normen: AsylG § 30 Abs. 2 Nr. 2
Auszüge:

[...]

8 aa) Nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag dann als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht wurden, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, sodass die Begründung für den Asylantrag offensichtlich nicht überzeugend ist.

9 § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG enthält drei Fälle: (1) eindeutig unstimmige und widersprüchliche Angaben, (2) eindeutig falsche Angaben und (3) offensichtlich unwahrscheinliche Angaben. Die weitere Anforderung, dass Angaben "im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftsinformationen stehen" bezieht sich nur auf den dritten Fall der offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben [...].

10 Dies ergibt sich nicht eindeutig aus dem Wortlaut, folgt aber aus der (unionsrechtskonformen) Auslegung der Norm.

11 (1) Wortlaut und Grammatik sind nicht eindeutig, weil sich der eingeschobene Relativsatz nur auf einen oder zwei der Fälle oder auf das Wort "Angaben" beziehen könnte, und sodann für alle Fälle gelten würde.

12 Ein Blick auf die – insofern wortgleiche – unionsrechtliche Vorgabe des Art. 31 Abs. 8 Buchst. e) der Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes) deutet darauf hin, dass sich der Relativsatz nur auf den dritten Fall beziehen könnte.

13,14 Die deutsche Fassung lautet:

"der Antragsteller eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, so dass die Begründung für seine Behauptung, dass er Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU anzusehen ist, offensichtlich nicht überzeugend ist;"

15,16 die englische Fassung lautet:

"the applicant has made clearly inconsistent and contradictory, clearly false or obviously improbable representations which contradict sufficiently verified country-of-origin information, thus making his or her claim clearly unconvincing in relation to whether he or she qualifies as a beneficiary of international protection by virtue of Directive 2011/95/EU;"

17,18 die französische Fassung lautet:

"le demandeur a fait des déclarations manifestement incohérentes et contradictoires, manifeste-ment fausses ou peu plausibles qui contredisent des informations suffisamment vérifiées du pays d’origine, ce qui rend sa demande visiblement peu convaincante quant à sa qualité de bénéficiaire d’une protection internationale en vertu de la directive 2011/95/UE;".

19 Die deutsche und englische Fassung liefern keine eindeutige Antwort für die hiesige Frage, weil das Wort "Angaben" ("representations") am Ende der Auflistung der drei Fälle steht und sich die darauffolgende Anforderung ("die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen" bzw. "which contradict sufficiently verified country-of-origin information") auf alle drei Fälle beziehen könnte.

20 Unter Beachtung der französischen Fassung bleibt die grammatikalische Auslegung auf den ersten Blick weiterhin unergiebig. Der französischen Grammatik entsprechend steht das Substantiv "déclarations" (Angaben) am Beginn der Aufzählung und die Konkretisierung "qui contredisent des informations suffisamment vérifiées du pays d’origine" (die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen) steht nach "peu plausibles" (unwahrscheinlich).

21 Vor dem Hintergrund dieser drei Fassungen und des offenkundig problematischen Bezugspunktes des Relativsatzes, hätte sich aber grundsätzlich eine andere Formulierung geradezu aufgedrängt, wenn sich die zusätzliche Vorgabe bezüglich der Herkunftslandinformationen auf alle drei Fälle der Norm hätte beziehen sollen. Dann nämlich hätte dieser Satzteil als weitere Aufzählung formuliert werden müssen, also durch die Worte "und" oder "sowie" angefügt oder auch in der englischen und französischen Fassung durch ein Komma eingeleitet. Dann wäre es eine kumulative Anforderung für alle drei Fälle der Norm gewesen.

22 Das liegt gerade mit Blick auf die französische Fassung, die das Substantiv vorne – also weit entfernt vom Relativsatz – stehen hat, derart nahe, dass die hier gewählte Formulierung eher den Schluss zulässt, dass sich der Relativsatz nur auf den dritten Fall (offensichtlich unwahrscheinliche Angaben) bezieht.

23 (2) Die innere Systematik der Norm bestätigt diesen Befund. Denn die Voraussetzungen sind wegen ihres Ausnahmecharakters und der einschneidenden Folgen sehr eng zu verstehen.

24 Die ersten beiden Fälle sind schon per se eng formuliert: eindeutig unstimmige und widersprüchliche Angaben sowie eindeutig falsch. Der dritte Fall hingegen ist weniger streng formuliert: "Offensichtlich unwahrscheinlich" stellt an die Würdigung graduell niedrigere Anforderungen als die beiden anderen "eindeutigen" Fälle. Dies wird aber gerade dadurch ausgeglichen, dass wegen der niedrigeren Schwelle eine zusätzliche "Hürde" des Widerspruchs zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen hinzutritt. Dieser Einschub ist also als Ausgleich anzusehen, der sich sinnvollerweise nur auf den dritten Fall bezieht.

25 Systematisch betrachtet betrifft der erste Fall (eindeutig unstimmige und widersprüchliche Angaben) damit die (innere) Glaubhaftigkeit des Vortrags an sich. Es besteht hier auch kein (zwingendes) Bedürfnis, die unglaubhaften Aussagen mit der Situation im Herkunftsland zu vergleichen. Denn es kann sich hier vor allem auch um Aussagen handeln, die sich nach den Herkunftslandinformationen so zugetragen haben könnten, die aber unglaubhaft vorgetragen sind.

26 Der zweite Fall betrifft falsche Aussagen, die sich vom ersten Fall dadurch unterscheiden, dass es hier nicht auf die Glaubhaftigkeit der Aussage ankommt, sondern auf den objektiven Aussagegehalt. Eine Angabe kann glaubhaft vermittelt, aber dennoch objektiv falsch sein. So ist etwa allgemein anerkannt, dass zwei gegenteilige Aussagen zu derselben Tatsache je für sich genommen glaubhaft sein können (sog. non liquet). Vom dritten Fall der offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben unterscheidet sich der zweite Fall zum einen in gradueller Hinsicht. Denn die Wertung "eindeutig falsch" muss klar und sicher feststehen – im Gegensatz zu "unwahrscheinlich". Zum anderen unterscheiden sie sich hinsichtlich des Bezugspunktes. Denn falsche Angaben können auch solche sein, die sich grundsätzlich nach gesicherten Herkunftslandinformationen so zugetragen haben könnten, der konkreten Person aber (eindeutig) nicht widerfahren sind.

27 Der dritte Fall betrifft daher bspw. glaubhaft vermittelte Aussagen über Geschehnisse, bei denen es erfahrungsgemäß bzw. unter Abgleich mit den Herkunftslandinformationen offensichtlich unwahrscheinlich ist, dass sie sich so zugetragen haben. Der Nachweis einer Falschaussage ist aber nicht zwingend notwendig, gegebenenfalls auch de facto nicht möglich. Umfasst sind also insbesondere Aussagen über vermeintliche Verfolgungshandlungen oder über die Lage im Herkunftsland. Beim zweiten Fall (eindeutig falsche Aussagen) werden hingegen vor allem auch Lügen erfasst, also etwa Aussagen über Sachverhalte, die sich nach den Herkunftslandinformationen grundsätzlich so zugetragen haben könnten, sich aber offensichtlich nicht so zugetragen haben.

28 (3) Auch Sinn und Zweck sprechen für dieses Verständnis. Die Norm soll bei offensichtlich aussichtslosen bzw. voraussichtlich unbegründeten Fällen und bei schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung für Beschleunigung sorgen [...]. So sollen insbesondere die Dauer des unberechtigten Aufenthalts in der Bundesrepublik verkürzt [...] und Missbrauch unterbunden werden [...].

29 Die Vorschrift knüpft – unausgesprochen – an die Mitwirkungsobliegenheiten des Asylbewerbers im Asylverfahren an. Hierzu gehört es, die Gründe, auf die er sich in seinem Asylverfahren beruft, vollständig und wahrheitsgetreu darzulegen, soweit es sich um sein persönliches Schicksal handelt. Ist sein diesbezüglicher Vortrag in sich widersprüchlich oder im offenkundigen Widerspruch zu Tatsachen, genügt der Asylbewerber der in eigenem Interesse bestehenden Obliegenheit nicht. Das Vorbringen des Asylbewerbers muss qualifiziert "bemakelt" sein. Das Erfordernis der Eindeutigkeit bzw. Offensichtlichkeit verlangt, dass an der Unstimmigkeit, der Widersprüchlichkeit, der Falschheit oder Unwahrscheinlichkeit der Angaben des Ausländers keinerlei vernünftige Zweifel bestehen [...].

30 Vor diesem Hintergrund wäre es widersinnig, wenn sich die weitere Voraussetzung des Widerspruchs zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen auf alle drei Fälle der Norm beziehen würde. Denn dann wäre eine Vielzahl von Fällen, die nach dem Sinn und Zweck von der Norm umfasst sein sollen, nicht erfasst. Konkret wären dies die bereits oben angesprochenen Fälle, in denen sich vorgetragene Geschehnisse nach den Herkunftslandinformationen so zugetragen haben könnten, aber der Vortrag eindeutig unglaubhaft oder falsch ist. Diese Fälle würden auch nicht unter Nr. 1 des § 30 Abs. 1 AsylG fallen, weil sich der Vortrag bspw. auf Verfolgungshandlungen, also auf Umstände beziehen würde, die – entgegen Nr. 1 – gerade von Belang sein könnten. Auch die anderen Ziffern der Norm wären offenkundig nicht einschlägig. Gerade in Missbrauchskonstellationen wäre dann eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht möglich. Damit fielen etliche schwerwiegende Konstellationen aus dem Anwendungsbereich der Norm. Dies widerspräche Sinn und Zweck der Norm.

31 bb) So verstanden betrifft § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch den Fall, dass falsche bzw. gefälschte Beweismittel vorgelegt wurden [...]. Denn gefälschte Beweismittel sind eindeutig "falsche […] Angaben" i. S. d. § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bzw. des Art. 32 Abs. 8 lit e) Richtlinie 2013/32/EU deren Umsetzung § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dient [...].

32 Das vorgelegte gefälschte oder verfälschte Beweismittel muss einen wesentlichen Aspekt des Asylvorbringens erfassen, damit davon ausgegangen werden kann, dass der Asylsuchende sich darauf stützt [...]. Das Vorliegen einer Fälschung bzw. einer Verfälschung muss zur Überzeugung des Bundesamtes bzw. des Gerichts feststehen. Eine starke Vermutung in diese Richtung ist nicht ausreichend. [...]