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VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Beschluss vom 21.11.2024 - 4 L 387/24.A - asyl.net: M32978
https://www.asyl.net/rsdb/m32978
Leitsatz:

Zum Begriff der "familiären Bindungen": 

1. Einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG stehen familiäre Bindungen auch dann entgegen, wenn es sich um partnerschaftliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften handelt. Art. 8 EMRK und Art. 6 GG beschränken den Schutz der Familie nicht auf eheliche Lebensgemeinschaften. Zudem sind auch junge volljährige Kinder, die noch mit ihren Eltern zusammenleben von dem Schutz umfasst. 

2. Es steht dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegen, wenn Lebenspartner und Kind noch im Besitz einer Aufenthaltsgestattung sind und eine Abschiebung voraussichtlich zur Trennung der Familie auf unabsehbare Zeit führen würde. Insbesondere wenn die Abschiebung in zwei unterschiedliche Länder angedroht ist. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: familiäre Lebensgemeinschaft, nichteheliche Lebensgemeinschaft, nichteheliche Partnerschaft, volljähriges Kind, Volljährigkeit, Abschiebungsandrohung, Suspensiveffekt, Kolumbien, Venezuela,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der unionsrechtliche Begriff der "familiären Bindungen" bezieht sich auf das in Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC verankerte Recht auf Privat- und Familienleben und ist in diesem Sinne auszulegen [...]. Hiernach bilden den traditionellen Kern des Familienbegriffs in Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC Ehegatten und Kinder. Entscheidend ist dabei das tatsächlich bestehende Familienleben. Dies entspricht dem Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG, wonach es ebenfalls auf die tatsächliche Verbundenheit der Familienmitglieder ankommt. Erfasst sind auch eheliche und andere partnerschaftliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau ohne Kinder sowie gleichgeschlechtliche Beziehungen. Anhaltspunkte für eine gelebte Beziehung sind ein gemeinsamer Haushalt, Art und Dauer der Beziehung, Interesse und Bindung der Partner aneinander, zum Beispiel durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände. Neben der partnerschaftlichen Beziehung fällt auch die Beziehung zu Kindern unter den Schutz des Familienlebens nach Art. 8 EMRK. Ein Kind, das aus einer ehelichen oder partnerschaftlichen Beziehung hervorgegangen ist, gehört zu diesem Familienverband. Dies gilt auch dann, wenn es sich um einen jungen Erwachsenen handelt, der noch keine eigene Familie gegründet hat und bei seinen Eltern lebt. Familienbeziehungen im Sinne von Art. 8 EMRK bestehen grundsätzlich auch zu anderen nahen Verwandten, insbesondere zu Geschwistern sowie zwischen Großeltern und Enkelkindern. Sie haben aber in der Regel nicht die gleiche Bedeutung wie innerhalb der Kernfamilie. Beziehungen zwischen Erwachsenen genießen daher nur dann als Familienleben den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn über die emotionale Verbundenheit hinaus zusätzliche Elemente der Abhängigkeit vorliegen [...].

Die Antragstellerin hat familiäre Belange in diesem Sinne geltend gemacht. Sie hat vorgetragen, dass sie ihren Lebensgefährten bereits im Jahr 2000 in Venezuela kennengelernt habe und die Lebensgemeinschaft seitdem Bestand habe. Auch in Deutschland leben die Lebenspartner in einer gemeinsamen Wohnung. Aus der Lebensgemeinschaft ist der inzwischen volljährige Sohn hervorgegangen. Diese familiären Belange der Antragstellerin sind gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG vor Erlass einer Abschiebungsandrohung dahingehend zu prüfen, ob sie einer - sofortigen - Abschiebung und der Abschiebung in verschiedene Zielstaaten entgegenstehen. Die hierfür erforderliche Sachverhaltsaufklärung und nachfolgende Prüfung in Gestalt der Abwägung der familiären Bindungen und der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung sind Aufgaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge als im nationalen Verfahren zuständige Behörde bzw. nach Abschluss des Asylverfahrens die Ausländerbehörden [...].

Die vom Bundesamt getroffene Aussage, der Lebensgefährte und der volljährige Sohn der Antragstellerin gehörten per Definition nicht zur Kernfamilie, liegt neben der Sache, da sowohl die Beziehung zum Lebensgefährten als auch die Beziehung zu ihrem Sohn - auch wenn es sich um einen jungen Erwachsenen handelt - grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK umfasst und als familiäre Belange vor Erlass der Abschiebungsandrohung vom Bundesamt zu berücksichtigen sind. [...]