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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 13.06.2024 - C-62/23 - Pedro Francisco gg. Spanien - asyl.net: M32984
https://www.asyl.net/rsdb/m32984
Leitsatz:

Frühere Festnahmen können bei der Gefahrenprognose berücksichtigt werden: 

Frühere Festnahmen können bei der Beurteilung im Rahmen von Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts), ob von einer Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, Berücksichtigung finden, wenn übereinstimmende, objektive und genaue Anhaltspunkte vorliegen, die die Stichhaltigkeit des Verdachts belegen können, dem diese Person infolge der Festnahme ausgesetzt war. Es muss eine umfassende Prüfung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen, der Art und Schwere der zur Last gelegten Straftaten und der Grad der individuellen Beteiligung erfolgen. Es ist zudem zu berücksichtigen, wie viel Zeit vergangen ist und wie sich der Betroffene seither verhalten hat. 

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Aufenthaltskarte, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung,
Normen: RL 2004/38/EG Art. 27 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 27 Abs. 2
Auszüge:

[...]

17 Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 27 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass eine Kriminalakte bei der Beurteilung der Frage, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche Gefahr darstellt, ausschlaggebend sein oder als Grundlage dienen kann, obgleich der Zweck des Strafverfahrens darin besteht, das Vorliegen einer solchen Gefahr zu beweisen?

2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Muss die Auslegung im Licht von Art. 27 der Richtlinie 2004/38 dahin gehen, dass die Regierungsbehörde ausdrücklich und eingehend auf den der Kriminalakte zugrunde liegenden Sachverhalt und die Einleitung von Gerichtsverfahren sowie deren Ausgang hinweisen muss, um zu untermauern, dass es sich nicht um bloße anfängliche Vermutungen handelt? [...]

18 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen nationalen Behörde verwehrt, eine frühere Festnahme des Betroffenen zu berücksichtigen, um zu beurteilen, ob dessen Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, gegebenenfalls unter der Voraussetzung, dass die der Festnahme zugrunde liegenden Tatsachen sowie deren etwaige gerichtliche Folgen ausdrücklich und eingehend berücksichtigt werden.

19 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich der Ausgangsrechtsstreit aus der Weigerung der zuständigen Behörde ergibt, dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine befristete Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers zu erteilen, obwohl Art. 10 Abs. 1 der genannten Richtlinie u. a. vorsieht, dass das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch die Ausstellung einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" nachgewiesen wird.

20 Der Kläger ist Lebenspartner einer spanischen Staatsangehörigen und die Partnerschaft zwischen beiden ist im Lebenspartnerschaftsregister von Katalonien eingetragen, so dass der Kläger als "Familienangehöriger eines Unionsbürgers" im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie anzusehen ist.

21 Im Übrigen geht, wie die Europäische Kommission geltend macht, aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen nicht hervor, dass die spanische Staatsangehörige, deren Lebenspartner der Kläger ist, von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht hätte, so dass der Kläger des Ausgangsverfahrens grundsätzlich weder aus der Richtlinie 2004/38 noch aus Art. 21 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten kann [...].

27 Nach diesen einleitenden Klarstellungen ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt in der Union nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden darf [...].

28 Beschränkungen des Aufenthaltsrechts ergeben sich insoweit vor allem aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, beschränkende Maßnahmen insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erlassen dürfen, wobei diese Gründe jedoch nicht zu rein wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden dürfen [...].

29 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen zwar weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit, insbesondere als Rechtfertigung einer Ausnahme vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit, erfordern, doch sind diese Anforderungen eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Unionsorgane bestimmt werden kann [...].

32 Folglich können nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich gemäß Art. 27 Abs. 2 nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche, erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt [...].

33 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass beim Erlass von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne von Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 Straftaten oder Handlungen, die dem Betroffenen vorgeworfen werden und nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt haben, wie die Festnahme des Klägers des Ausgangsverfahrens als mutmaßlicher Straftäter, relevante Gesichtspunkte darstellen können, sofern sie im Rahmen einer Einzelfallprüfung berücksichtigt werden, die den in dieser Bestimmung vorgesehenen Anforderungen entspricht [...].

34 Insoweit ist klarzustellen, dass nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Richtlinie strafrechtliche Verurteilungen allein diese Maßnahmen nicht ohne Weiteres begründen können. Dies gilt erst recht für Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Festnahme. Zwar kann eine Festnahme von der zuständigen nationalen Behörde berücksichtigt werden, doch kann das bloße Vorliegen einer solchen Festnahme den Erlass dieser Maßnahmen nicht von sich aus rechtfertigen.

35 In Ermangelung einer rechtskräftigen Verurteilung und gar einer strafrechtlichen Verfolgung spiegelt diese Festnahme nämlich nur das Vorliegen eines Verdachts gegen die betreffende Person wider, so dass eine Prüfung unter Berücksichtigung aller ihre Situation kennzeichnenden relevanten Gesichtspunkte umso notwendiger ist [...].

36 Außerdem kann nur dann festgestellt werden, dass das Verhalten einer festgenommenen Person eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wenn übereinstimmende, objektive und genaue Anhaltspunkte vorliegen, die die Stichhaltigkeit des Verdachts belegen können, dem diese Person infolge der Festnahme ausgesetzt ist.

37 Daher sind im Rahmen der umfassenden Prüfung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen für die Feststellung, ob das Verhalten eine solche Gefahr darstellt, die Umstände zu berücksichtigen, auf denen die Festnahme beruht, insbesondere Art und Schwere der dem Betroffenen zur Last gelegten Straftaten bzw. Handlungen, der Grad seiner individuellen Beteiligung daran und das etwaige Vorliegen von Gründen für den Ausschluss seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Bei dieser umfassenden Prüfung muss auch berücksichtigt werden, wie viel Zeit seit der mutmaßlichen Begehung dieser Straftaten bzw. Handlungen vergangen ist und wie sich der Betroffene später verhalten hat [...].

41 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen nationalen Behörde nicht verwehrt, eine frühere Festnahme des Betroffenen zu berücksichtigen, um zu beurteilen, ob dessen Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, sofern die der Festnahme zugrunde liegenden Tatsachen sowie deren etwaige gerichtliche Folgen im Rahmen der umfassenden Prüfung dieses Verhaltens ausdrücklich und eingehend berücksichtigt werden. [...]