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VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Beschluss vom 19.12.2024 - RN 4 S 24.33223 - asyl.net: M33003
https://www.asyl.net/rsdb/m33003
Leitsatz:

Eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben müssen sich auf Tatsachen beziehen: 

"1. Offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfordert eine Widersprüchlichkeit in sich, oder wenn Aussagen offenkundig nicht den Tatsachen entsprechen, dafür ist es aber nicht ausreichend, wenn Aussagen einer Person im Widerspruch zu Aussagen einer anderen Person stehen, die diese Person in ihrem eigenen Asylverfahren, über welches bereits entschieden wurde, vorgetragen hat.

2. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG setzt nach der Gesetzesbegründung und nach dem Wortlaut der Neufassung "mutwillig" voraus, dass nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu einer Qualifizierung der Ablehnung eines unbegründeten Asylantrags als offensichtlich unbegründet führt, sondern allein eine solche, die im Ergebnis die sichere Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden verhindert hat."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Pass, widersprüchliche Angaben, Iran, Konversion, Asylverfahren,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 4, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

18 Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet wird einerseits auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt, da nach Auffassung des Bundesamts der Vortrag der Antragstellerin in zentralen Punkten des geschilderten Vorfluchtgeschehens dem Vortrag ihrer Tochter in deren Asylverfahren widerspreche. Das auf entsprechenden Vorhalt erfolgte Vorbringen habe erkennbaren Ausfluchtcharakter gehabt, ohne die Unvereinbarkeit der Darstellungen beseitigen zu können.

19 Anderseits sei der Asylantrag nach § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, da die Antragstellerin ihren Reisepass (auf Anraten des Schleusers) diesem ausgehändigt habe. Nachvollziehbare Gründe hierfür habe sie nicht nennen können, sodass ein Verstoß gegen die gesteigerten Mitwirkungspflichten nach §§ 15, 25 AsylG vorliegen würde, hier insbesondere §§ 15 Abs. 2 Nr. 4 und 5 AsylG. Einem Reisepass komme nicht nur die Funktion als Identitätsnachweis zu (inklusive Möglichkeit der Überprüfung auf seine Echtheit hin mittels PTU), sondern ermögliche in seiner Funktion als Reisedokument auch Rückschlüsse und Beweise hinsichtlich der vollzogenen Reisebewegungen. Seine Vernichtung diene zudem der Verhinderung bzw. Erschwerung von Rückführungsmaßnahmen (Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen). Demgegenüber seien andere Identitätsdokumente (ID-Karte) oder Personenstandsurkunden – abhängig vom Herkunftsstaat – u. U. nicht gleich geeignet, um Nachweis über die Identität und Staatsangehörigkeit zu geben, weil z.B. ihre Ausstellungsmodalitäten als fragwürdig zu bewerten seien oder sie aufgrund fehlenden Vergleichsmaterials oder nicht vorhandener Fälschungssicherheit nicht als gleichermaßen geeigneter Identitätsnachweis fungieren können, wie ein von den staatlichen Institutionen ausgestellter und mit besonderen Fälschungsmerkmalen versehener Reisepass. [...]

34 a) Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen nach summarischer Prüfung nicht vor. [...]

36 [...] Die Vorschrift knüpft – unausgesprochen – an die Mitwirkungsobliegenheiten des Asylbewerbers im Asylverfahren an. Hierzu gehört es, die Gründe, auf die er sich in seinem Asylverfahren beruft, vollständig und wahrheitsgetreu darzulegen, soweit es sich um sein persönliches Schicksal handelt [...]. Ist sein diesbezüglicher Vortrag in sich widersprüchlich oder im offenkundigen Widerspruch zu Tatsachen, genügt der Asylbewerber der in eigenem Interesse bestehenden Obliegenheit nicht [...].

37 Dasselbe gilt auch für eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben. Auch wenn dies sprachlich nicht eindeutig ist, ist der Zusatz im anschließenden Relativsatz, der einen Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen verlangt, (wohl) auf diese beiden Alternativen zu beziehen, während die eindeutig unstimmigen und widersprüchlichen Angaben schon in sich nicht schlüssig sein und nicht mehr mit anderen Informationen abgeglichen werden müssen. Dabei müssen sich die eindeutig falschen oder offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben auf Tatsachen beziehen; deren rechtliche Bewertung wird hingegen nicht erfasst [...].

38 Es ist zudem davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bei der Neufassung der Vorschrift nicht die Anforderungen an ein Offensichtlichkeitsverdikt absenken wollte, sodass i.R.d. § 30 Abs. 1 Nr. 2 auf den für § 30 Abs. 1 a.F. maßgeblichen Rechtsbegriff der Offensichtlichkeit zurückgegriffen werden kann, der seinerseits historisch zunächst mit Blick auf die Abweisung einer Klage als offensichtlich unbegründet entwickelt worden ist, aber auf die Entscheidung des Bundesamtes nach § 30 übertragen werden kann [...]

39 bb) Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist das Vorbringen der Antragstellerin nicht derart unstimmig oder widersprüchlich, dass sich die Ablehnung des Asylantrages geradezu aufdrängt. Insoweit ist festzustellen, dass der Vergleich der Aussagen der Antragstellerin mit den Aussagen ihrer Tochter eine Widersprüchlichkeit nicht per se begründen kann, da insoweit nicht pauschal angenommen werden kann, dass die Aussagen der Tochter in ihrem Asylverfahren - insbesondere soweit sie die Angelegenheiten der Mutter (also der hiesigen Antragstellerin) betreffen, tatsächlich richtig waren. Es muss zumindest auch in Erwägung gezogen werden, dass die Angaben der Tochter der Antragstellerin insbesondere zum Besuch der 10Hauskirche durch die Antragstellerin und dem Gefängnisaufenthalt unrichtig waren. Bei den Aussagen der Tochter handelt es sich weder um festgestellte Tatsachen, noch um Offensichtlichkeiten, sodass die vermeintlich im Widerspruch dazu stehenden Aussagen der Antragstellerin nicht unter § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG subsumiert werden können. Die Aussagen der Antragstellerin selbst sind in sich weder eklatant widersprüchlich, noch stehen sie im Widerspruch zu festgestellten Tatsachen. Auch wenn die Angaben der Antragstellerin wegen einzelner Unstimmigkeiten im Vortrag gegebenenfalls als eher unwahrscheinlich anzusehen sein sollten, steht jedenfalls eine Verfolgung durch die eigene Familie bzw. den iranischen Staat aufgrund eines Konversionsprozesses nicht im Widerspruch zu den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen [...].

40 b) Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG liegen nach summarischer Prüfung ebenfalls nicht vor.

41 Das Bundesamt hat hier unter Berufung auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG die Anträge auf Asyl- und Flüchtlingsanerkennung sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt, weil die Antragstellerin den Reisepass dem Schleuser ausgehändigt habe. [...]

44 Entgegen der Auffassung des Bundesamts wird aus der Gesetzesbegründung und auch aus dem Wortlaut der Neufassung "mutwillig" deutlich, dass nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu einer Qualifizierung der Ablehnung eines unbegründeten Asylantrags als offensichtlich unbegründet führen soll, sondern allein eine solche, die im Ergebnis die sichere Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden verhindert hat. Denn Mutwilligkeit liegt nur bei einem vorsätzlichen oder absichtlichen Handeln mit dem konkreten Zweck der Verschleierung vor, um die Feststellung der Identität oder auch eine Abschiebung zu verhindern oder zu erschweren. Denn nur dann ist die Annahme gerechtfertigt, dass gerade das vernichtete oder beseitigte Personaldokument die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit "ermöglicht hätte". Bestehen aber aus anderen Gründen keine Zweifel an Identität und Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden, hat sich die Vernichtung oder Beseitigung des Personaldokuments auf deren Feststellung nicht ausgewirkt [...].

45 Ausgehend hiervon ist festzustellen, dass die mangelnde Vorlage des Reisepasses nicht zu einer Qualifizierung der Antragsablehnung als offensichtlich unbegründet herangezogen werden kann. Insoweit ist einerseits bereits fraglich, ob im vorliegenden Fall überhaupt Mutwilligkeit angenommen werden kann, da die Antragstellerin insoweit ausgeführt hat, dass sie den Reisepass zurückverlangt habe, der Schleuser die Rückgabe allerdings verweigert habe. Zum anderen hat das Bundesamt ausweislich der Akte keinerlei Zweifel an der Identität der Antragstellerin. Diese hat zwar bei Asylantragstellung nicht den Reisepass vorgelegt, aber ihre Identität und Staatsangehörigkeit jedoch durch die Vorlage anderer Dokumente nachweisen können. Insoweit hat sie insbesondere ihre Geburtsurkunde und ihren Führerschein vorgelegt, dessen Authentizität das Bundesamt nach einer durchgeführten Dokumentenprüfung ausdrücklich nicht in Zweifel gezogen, sondern vielmehr – neben dem Gesamteindruck in der persönlichen Anhörung und den Angaben des eingesetzten Dolmetschers – der aktenkundig gemachten Feststellung zugrunde gelegt hat, sodass Zweifel an Identität und Herkunft der Antragstellerin nicht bestehen. Bei dieser Sachlage erweist sich die Vernichtung des Reisepasses im vorliegenden Zusammenhang als unschädlich.[...]