BlueSky

VG Magdeburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 03.09.2024 - 3 B 144/24 MD - asyl.net: M33017
https://www.asyl.net/rsdb/m33017
Leitsatz:

Vorgeburtlicher Schutz der Familie: 

1. Das Grundrecht auf Schutz der Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK kann bereits eine vorgeburtliche Schutzwirkung entfalten und der Abschiebung eines Elternteils entgegenstehen, wenn ein Verfahren zur Familienzusammenführung bis zur Geburt nicht mehr möglich ist.

2. Die vorgeburtliche Schutzwirkung setzt voraus, dass der nichteheliche Vater die Vaterschaft vorgeburtlich anerkennt und seine Bereitschaft zur Übernahme der Erziehungs- und Sorgeverantwortung erklärt. Die Lebensverhältnisse der Eltern müssen zudem sicher erwarten lassen, dass eine gemeinsame elterliche Verantwortung, Betreuung und Sorge für das Kind ausgeübt werden soll. 

3. Führten die Elternteile in der Vergangenheit keine Lebensgemeinschaft und lebten seit mehreren Jahren in verschiedenen Ländern, greift die vorgeburtliche Schutzwirkung nicht. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Schwangerschaft, vorgeburtlicher Schutz, Schutz der Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Abschiebung, Trennung durch Abschiebung, Unzulässigkeit, Suspensiveffekt, Familienzusammenführung,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, MuSchG § 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

8 Die Schwangerschaft der Antragstellerin stellt aktuell kein Abschiebungshindernis dar. In entsprechender Anwendung der § 3 Abs. 1 und Abs. 2 MuSchG scheidet eine Abschiebung grundsätzlich sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt des Kindes aus. Der voraussichtliche Entbindungstermin ist ausweislich des vorgelegten Mutterpasses der … 2024. Demzufolge ist bis zum … 2024 eine Überstellung der Antragstellerin nach Schweden trotz ihrer Schwangerschaft möglich. Dafür, dass die Überstellung ausnahmsweise schon vor diesem Termin zu unterbleiben hat, weil die Gesundheit der Antragstellerin oder des Kindes durch die Abschiebung gefährdet wird, bestehen keine Anhaltspunkte. Ebenso wenig steht der Aufenthalt des Kindsvaters in Deutschland ihrer Überstellung nach Schweden entgegen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin mit dem Kindsvater nach dem Recht des Heimatstaates wirksam verheiratet ist.

9 Auch sofern man mit einem Teil der Rechtsprechung für das ungeborene Kind und seinen Eltern vorgeburtliche Wirkungen des Grundrechts auf Schutz der Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK annimmt, die im Einzelfall einer Abschiebung eines Elternteils in einen Drittstaat entgegenstehen können, ist vorliegend kein Abschiebungshindernis gegeben.

10 Wie gewichtig der aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgende Schutz für die Familie ist, hängt von den jeweiligen Umständen des jeweiligen Einzelfalles, insbesondere von der Intensität der familiären Beziehungen – ob es sich etwa um eine familiäre Lebensgemeinschaft oder eine bloße Begegnungsgemeinschaft handelt – dem Alter von Kindern oder auch der Betreuungsbedürftigkeit einzelner Familienmitglieder ab. Bei einer Vater-Kind-Beziehung ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann [...].

11 Die vorgeburtliche Wirkung des Grundrechts auf Schutz der Familie setzt voraus, dass der nichteheliche Vater durch die vorgeburtliche Anerkennung der Vaterschaft zu erkennen gegeben hat, dass er die elterliche Verantwortung übernehmen wird und zudem der Entbindungszeitpunkt so nahe bevorsteht, dass bis zur Geburt des Kindes eine Familienzusammenführung nicht mehr in Betracht kommt. Darüber müssen die Eltern des Kindes in solchen Verhältnissen leben, welche die Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des gemeinsamen Kindes sicher erwarten lassen [...]. Das kann für die Antragstellerin und dem Vater des Kindes nicht angenommen werden. Denn sie lebten seit September 2016 in verschiedenen Ländern und führten jahrelang keine gemeinsame Lebensgemeinschaft. [...]