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AG Itzehoe

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Zitieren als:
AG Itzehoe, Beschluss vom 24.01.2025 - 86 XIV 2518 B - asyl.net: M33037
https://www.asyl.net/rsdb/m33037
Leitsatz:

Aufhebung einer Überstellungshaft wegen Verstoß gegen Beschleunigungsgebot: 

1. Wird ein Wiederaufnahmegesuch an einen Mitgliedstaat erst 2,5 Wochen nach Asylantragstellung durch das BAMF gestellt, während sich der Betroffene in Überstellungshaft befindet, so stellt dies einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dar, den sich die haftbeantragende Behörde zurechnen lassen muss. Es ist durchaus zumutbar, ein Wiederaufnahmegesuch innerhalb einer Woche zu stellen. 

2. Allein die Äußerung eines*r Betroffenen, dass eine Abschiebung eine psychische Belastung und erhebliche Zumutung darstelle, ist nicht ausreichend für den Haftgrund des § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG. Eine Fluchtgefahr wird danach vermutet, wenn der*die Betroffene ausdrücklich erklärt hat, dass er*sie sich der Abschiebung entziehen will. 

3. Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn eine anwaltliche Vertretung lediglich als Beistand bestellt wird. 

4. Ein Verfahrensmangel liegt überdies vor, wenn das Haftgericht die Haftdauer länger als beantragt anordnet. Das Haftgericht ist an den Antrag gebunden. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Fluchtgefahr, Rechtsanwalt, Pflichtanwalt, Beistand, Haftdauer, Beschleunigungsgebot,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 6, AufenthG § 62d, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, FamFG § 68 Abs. 1, FamFG § 70 Abs. 4
Auszüge:

[...]

a) Die angeordnete Überstellungshaft verstößt gegen das Beschleunigungsgebot.

Da das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG [...] ein Beschleunigungsgebot aufstellt [...] sind Behörden wie auch Gerichte verpflichtet, die Haft so kurz wie möglich zu halten. Daher muss insbesondere die Behörde die Abschiebung des Ausländers ohne vermeidbare Verzögerung mit der größtmöglichen Beschleunigung betreiben [...]. Wird hiergegen verstoßen, darf Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht aufrechterhalten werden [...]. Zu solch einer vermeidbaren Verzögerung ist es vorliegend aber gekommen. Wie sich erst heute im Rahmen der Beschwerdeanhörung ergeben hat, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erst am 16.01.2025 die schwedischen Behörden um Wiederaufnahme des Betroffenen ersucht, also rund 2,5 Wochen nach der Asylantragstellung des Betroffenen. Nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts hätte eine solche Anfrage - auch unter Berücksichtigung des Jahreswechsels und eines damit verbundenen Feiertages - deutlich schneller erfolgen können und müssen. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass ein derart einfacher Akt nicht innerhalb von einer Woche umgesetzt werden kann. Diese vermeidbare Verzögerung hat sich die Antragstellerseite - ohne dafür verantwortlich zu sein - auch zurechnen zu lassen. Da sich die Verzögerung auch für die Betroffenen auch weiterhin fortsetzt und offenkundig nicht "aufgeholt" werden kann, verstößt die angeordnete Überstellungshaft gegen das Beschleunigungsgebot. [...]

Gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG wird erhebliche Fluchtgefahr dann vermutet, wenn der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Dies liegt vor, wenn klar zum Ausdruck gebracht wird, dass der Ausländer nicht freiwillig ausreisen und sich auch nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten würde [...]. Das Vorliegen einer dieser Voraussetzungen erscheint vorliegend fernliegend. Der Ausländer müsste nämlich klar und abseits spontaner Unmutsäußerung zum Ausdruck bringen, nicht freiwillig in den Zielstaat zu reisen und sich vor allem auch nicht für eine (ggf. zwangsweise) behördliche Durchsetzung der Ausreisepflicht zur Verfügung zu halten. [...] Zwar hat der Betroffene in der Anhörung durchaus "lebensmüde Gedanken" für den Fall einer Rückführung nach Schweden geäußert, doch kann dies auch durchaus als Unmutsäußerung in einer emotional belastenden Situation gedeutet werden. Vielmehr indiziert allein die Äußerung eines Ausländers, eine Abschiebung stelle eine psychische Belastung und erhebliche Zumutung dar, noch kein Entziehen [...].

c) Der Beschluss des Amtsgerichts Rostock ist überdies unter diversen Verfahrensmängeln zustande gekommen. Entgegen der Vorschrift nicht ausdrücklich ein anwaltlicher Vertreter bestellt, sondern lediglich ein "Beistand". Schwerer wiegt jedoch, dass in der angefochtenen Entscheidung eine Haftdauer angeordnet wurde, die über den Antrag hinaus geht. Beantragt wurde eine Haftdauer bis zum 09.02.2025; im Tenor des Beschlusses des Amtsgerichts Rostock wurde jedoch eine Dauer bis zum Ablauf des 10.02.2025 ausgesprochen. Das Haftgericht ist jedoch an den behördlichen Antrag gebunden und darf in der Haftdauer nicht darüber hinausgehen. Insbesondere darf keine längere Haft als beantragt angeordnet werden [...].

Ebenso wenig darf in einer anderen Haftart als der beantragten entscheiden werden. Insofern darf weder auf einen vorläufigen Antrag hin eine Hauptsacheentscheidung ergehen, noch umgekehrt [...]. Vorliegend hat die Antragstellerin einen Hauptsacheantrag eingereicht sowie hilfsweise um eine (ebenfalls sofort wirksame) einstweilige Haftanordnung gebeten. Ohne dies näher zu begründen, hat das Amtsgericht Rostock die Haft zur Sicherung der Überstellung im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochen. Eine derartige Entscheidungspraxis ist nach diesseitiger Überzeugung mit der Konstellation vergleichbar, dass auf einen Hauptsacheantrag (ohne Hilfsantrag) eine einstweilige Anordnung ergeht. Denn ohne eine entsprechende Begründung für dieses Vorgehen stellt dies eine "Überraschungsentscheidung" dar und verkürzt zudem den Rechtsschutz des Betroffenen ohne ersichtlichen Grund in unangemessener Weise (vgl. § 70 Abs. 4 FamFG). [...]