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VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 09.01.2025 - A 12 K 3586/24 - asyl.net: M33040
https://www.asyl.net/rsdb/m33040
Leitsatz:

Diskriminierende Strafverfolgung in der Türkei: 

1. Die türkischen Strafrechtnormen Art. 125 tStGB ("Beleidigung eines Beamten aufgrund der Ausübung seines Berufs) und Art. 299 tStGB ("Beleidigung des Präsidenten) stellen nicht per se politische Verfolgung dar, da sie jedenfalls vordergründig dem legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz dienen. 

2. In ihrer Anwendung dienen diese Vorschriften allerdings der gezielten Verfolgung Oppositioneller und werden bewusst zur Kriminalisierung von Oppositionellen herangezogen. Damit stellen sie eine diskriminierende Strafverfolgung dar. 

3. Die diskriminierende Strafverfolgung erfolgt dabei nicht nur gegenüber exponierten Personen, sondern auch hinsichtlich "einfacher" Oppositioneller. 

4.  Die diskriminierende Strafverfolgung stellt eine schwerwiegende Verletzung der Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren)  im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. 

5. Es ist davon auszugehen, dass die App "e Adalet" offizieller Natur ist und die von dort heruntergeladenen Dokumente echt sind. Die App wird von dem Anbieter "T.C Adalet Bakanlığı" bereitgestellt, der auch die App "Uyap Doküman Editör" bereitstellt, einen UYAP-Dokumenteneditor für mobile Geräte.

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, politische Verfolgung, Strafverfahren, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, Präsidentenbeleidigung, Beleidigung, Politmalus,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, EMRK Art. 6, EMRK Art. 10, tStGB Art. 125, tStGB Art. 299
Auszüge:

[...]

14 [...] Der Kläger hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]

17 In Ansehung dieser Maßstäbe ist trotz gewisser Inkonsistenzen im Vorbringen des Klägers sowohl im Rahmen seiner Anhörung bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Einzelrichter nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) davon auszugehen, dass gegen den Kläger in der Türkei Strafverfahren anhängig sind, die einen regierungskritischen Post vom – so jedenfalls die dortige behördliche Annahme – 29. Juni 2022 zu Gegenstand haben und der Kläger deshalb wegen des Vorwurfs der "Beleidigung eines Beamten aufgrund der Ausübung seines Berufs" – so die unter dem Ermittlungsaktenzeichen ... geführte Anklage –, strafbar gemäß Artikel 125/2, 125/1, 125/3-a und 53/1 des türkischen Strafgesetzbuchs, und wegen des Vorwurfs der "Beleidigung des Präsidenten" – so die unter dem Ermittlungsaktenzeichen ... geführte Anklage –, strafbar gemäß Artikel 299/1 und 53 des türkischen Strafgesetzbuchs, angeklagt ist. [...]

18 Der erkennende Einzelrichter geht insbesondere davon aus, dass die vom Kläger vorgelegten Dokumente echt sind. Zwar war er in der mündlichen Verhandlung nicht in der Lage, sich auf dem UYAP-Portal des türkischen Justizministeriums einzuloggen; auch der Einsprung über das e-Devlet-Portal nach UYAP scheiterte. Allerdings vermochte er, über die auf seinem Mobiltelefon installierte App "e-Adalet" die von ihm bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Dokumente dem erkennenden Einzelrichter vorzuführen. Die App "e-Adalet" wird – ausweislich der App-Stores "Google Play" für Android-Betriebssysteme und dem "AppStore" für mit iOS betriebenen Geräten – vom Anbieter "T.C Adalet Bakanlığı" bereitgestellt, der auch die App "Uyap Doküman Editör" bereitstellt. Diese zweite App wird auf der UYAP-Internetseite ("vatandas.uyap.gov.tr"; abgerufen am 9. Januar 2025) beworben mit "UDE ist on air! UYAP-Dokumenteditor für mobile Geräte. Sie können jetzt den im UYAP-Dokumentformat (UDF) vorbereiteten Inhalt auf Ihrem Mobilgerät anzeigen, nach Text suchen und ihn als PDF ausdrucken." Hieraus ist zu schließen, dass die vom Kläger zum Abruf der in UYAP hinterlegten Dokumente verwandte App "e-Adalet" offizieller Natur ist und die von ihm sowohl im Verwaltungs- als auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen echt sind. [...]

23 aa) [...] Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor, denn der vom Kläger am 29. Juni 2022 abgesetzte Tweet wendet sich gegen die kurdenfeindliche Haltung des Präsidenten der Republik Türkei Erdoğan und des zum Zeitpunkt des Versendens des Tweets amtierenden Ministers für Innere Angelegenheiten Süleyman Soylu, indem der Kläger ihnen vorwirft, die Kurden auszugrenzen, zu massakrieren, zu foltern und zu unterdrücken.

24bb) Wegen dieses Tweets unterliegt der Kläger diskriminierender Strafverfolgung.

25 (1) Der Begriff der Strafverfolgung bezeichnet das Handeln der mit der Aufklärung von Straftaten und Anklagevorbereitung befassten Strafverfolgungsorgane eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation, das heißt der Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft, Polizei). Hierzu zählen alle strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen [...], so auch im vorliegenden Fall in Form von zwei Anklagen, einem gerichtlichen Festnahmebefehl, der Ladung zu einer Gerichtsverhandlung sowie einem Haftbefehl.

26 (2) Diese Strafverfolgung ist als diskriminierend einzustufen.

27 (a) Nach den in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätzen ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen [...]. Im Hinblick auf Strafverfolgungsmaßnahmen gilt dies dann nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Der Flüchtlingsschutz gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Eine Strafverfolgung kann aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sogenannter Politmalus). Solange sich ein solcher "Politmalus" nicht von vornherein ausschließen lässt, bedarf es einer gerichtlichen Aufklärung des Sachverhalts in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise. Jedenfalls in Fällen, in denen es um die Beurteilung staatlicher Strafverfolgungsmaßnahmen als Bedrohung im Sinne von § 3 AsylG geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die Verneinung einer Verfolgung muss auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - C-472/13, "Andre Lawrence Shepherd" - Rn. 50).

28 Gemessen hieran bedarf es im ersten Schritt einer Bewertung, ob schon alleine die Strafnorm eine politische Verfolgung darstellt und deshalb asylbegründend wirken kann. Die Bewertung setzt voraus, dass zunächst Inhalt und Reichweite der fraglichen Rechtsnorm bestimmt wird [...]. Dies muss anhand ihres Wortlauts erfolgen, gegebenenfalls ist zur Bestimmung der Reichweite des Verbots die Ermittlung der ausländischen Rechtsauslegung und -anwendung erforderlich. Neben der Bewertung der Strafnorm ist festzustellen, ob die Strafverfolgungspraxis des Heimatstaats einen Verfolgungscharakter aufweist, und ob die verhängte Strafe eine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Sanktion darstellt [...]. Die Frage, ob ein in der Heimat anhängiges Strafverfahren politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts ist, hängt von der Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften durch die dortigen Strafgerichte ab [...]. Entscheidend ist, ob der Staat lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten wolle oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolge, den Straftäter wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger asylerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Nur in dem letztgenannten Fall liegt eine politische Verfolgung vor. Bei der Würdigung der in dem Staat herrschenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse sind folgende Kriterien zu berücksichtigen [...]: Wird festgestellt, dass der strafrechtliche Zugriff schon allein wegen des bloßen Innehabens einer politischen Überzeugung erfolgt, ist in aller Regel eine politische Verfolgungsabsicht indiziert. Im Übrigen ist zu untersuchen, ob ein Staat mit den Mitteln des Strafrechts auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine – mit der Staatsraison nicht übereinstimmende – politische Meinung nach außen bekundet und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübt und meinungsbildend auf andere einwirkt. Die politische Überzeugung wird dann in asylerheblicher beziehungsweise flüchtlingsrelevanter Weise unterdrückt. Entscheidend hierfür ist der Umfang der rechtlich gewährten und tatsächlich respektierten Meinungsfreiheit. Insoweit ist es von wesentlicher Bedeutung, ob es die in dem jeweiligen Staat bestehenden Vorschriften zulassen, dass die durch sie geschützten Prinzipien in Wort und Schrift kritisiert werden könnten und ihnen mit dem Ziel, meinungsbildend und überzeugend auf andere einzuwirken, andere Prinzipien als die "richtigen" entgegengestellt werden dürfen, ob also in dieser Weise eine geistige Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien der jeweiligen staatlichen Ordnung und den ihnen nicht entsprechenden Ideen möglich ist. Ein Staat, der bereits eine Meinungsäußerung des Einzelnen als eine Gefahr für seinen Bestand ansieht und durch Strafvorschriften erfasst, schränkt nicht die Handlungsfreiheit im Interesse der Gefahrenabwehr in asyl- beziehungsweise flüchtlingsrechtlich unerheblicher Weise ein, sondern pönalisiert in Wirklichkeit auch die – abweichende – politische Überzeugung selbst, die schon als solche als Gefahr angesehen wird [...].

29 (b) Übertragen auf den vorliegenden Fall mag anzunehmen sein, dass die maßgeblichen Strafrechtsnormen des türkischen Strafgesetzbuchs nicht bereits für sich genommen flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellen, weil diese – jedenfalls vordergründig – nicht per se "verwerflich" sind, sondern grundsätzlich dem legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz dienen, insbesondere dem Ansehen von Amtsträgern wie dem Staatsoberhaupt [...].

30 Keiner Vertiefung bedarf es außerdem, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 19. Oktober 2021 (Verdat Şorli/Türkei, Nr. 42048/19) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass in dem ihm vorliegenden Verfahren das gegen den dortigen Kläger nach Art. 299 tStGB geführte Strafverfahren mit der Gewährleistung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) unvereinbar war. Nach der Urteilsbegründung könne das Interesse eines Staats, den Ruf seines Staatsoberhaupts zu schützen, es nicht rechtfertigen, dem Staatsoberhaupt ein Privileg oder einen besonderen Schutz gegenüber dem Recht auf Information und Meinungsäußerung über ihn zu gewähren. Es sei zwar völlig legitim, dass Personen, die die Institutionen des Staates vertreten, von den zuständigen Behörden in ihrer Eigenschaft als Garanten der institutionellen öffentlichen Ordnung geschützt würden, dass aber die beherrschende Stellung, die diese Institutionen einnähmen, den Behörden gebiete, bei der Anwendung des strafrechtlichen Mittels Zurückhaltung zu üben. Erst ein Angleichen des innerstaatlichen Rechts würde eine angemessene Form der Wiedergutmachung darstellen und den festgestellten Verstoß beenden. Ob diese Aussagen allgemeinverbindlichen Charakter genießen, erscheint – einerseits – fraglich angesichts der Divergenz zwischen den einzelnen Sektionen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die eine Bindungswirkung für nationale Gerichte [...], und – andererseits – zweifelhaft wegen des Umstands, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 19. Oktober 2021 immer wieder auf die "Umstände des vorliegenden Falls" abstellt [...].

31 (c) Allerdings ergibt sich anhand der gegenwärtigen Erkenntnislage, dass die in Rede stehenden Normen des türkischen Strafgesetzbuchs die Grundlage für eine diskriminierende Strafverfolgung bilden, mithin ihre Anwendung zur gezielten Verfolgung politisch Oppositioneller instrumentalisiert werden und insoweit zu Lasten von Personen wie dem Kläger mit seiner kurdischen Volkszugehörigkeit, der einen regierungskritischen Post auf Twitter absetzte, ein "Politmalus" besteht.

32 Zunächst ist die allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens der Türkei zur Kenntnis zu nehmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt in seinen Länderinformationen der Staatendokumentation zur Türkei in der Version 9 vom 18. Oktober 2024, S. 62 ff., hierzu aus:

33 "Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren [...].

38 Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2023 betrafen von den 72 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 17 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 1.2024). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 28.12.2023, S.9). [...]"

42 Zur "Beleidigung des Präsidenten sowie die Herabwürdigung des türkischen Staates und der türkischen Nation als Straftatbestand" führt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a. a. O., S. 68 ff., aus:

43 "[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können‘, forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2022, ‚das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern‘ (EP 7.6.2022, S. 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021).

44 Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vgl. ARTICLE19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (ARTICLE19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022). Beispielsweise wurde im Mai 2022 ein marokkanischer Tourist von der Polizei verhaftet, nachdem dieser die Türkei als "Terroristenstaat" bezeichnete und Präsident Erdoğan beleidigte. Der damalige türkische Innenminister Soylu warnte bereits im März 2019, dass der Staat alle Touristen, die im Verdacht stehen, gegen das Regime von Präsident Erdogan zu opponieren, festnehme, sobald sie türkischen Boden betreten (MWN 9.5.2022). Die Zahl der Personen, gegen die nach den Artikeln 299 und 301 (Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen) des Strafgesetzbuches ermittelt wurde, stieg im Jahr 2022 laut den Statistiken des Ministeriums auf 16.753 von zuvor 12.304 im Jahr 2021 (TM 14.3.2024). Im einzelnen wurden im Jahr 2021 gemäß Artikel 299 1.239 Personen zu Haftstrafen verurteilt, darunter nur zwei Minderjährige im Alter zwischen 15 und 17. 38 Personen wurden gemäß Artikel 300, der Herabwürdigung staatlicher Symbole, und 111 Personen (darunter auch ein Minderjähriger in der Altersklasse 12-14) laut Artikel 301 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sonstige Strafen gem. Artikel 299 wurden gegen 1.130, gem. Artikel 300 gegen 24 und dem Artikel 301 folgend gegen 87 Individuen verfügt [Anm.: Neuere Statistiken differenzieren nicht mehr nach einzelnen Artikeln des Strafgesetzbuches.] (MoJ - GDJR&S 2022, S. 120, 156)." [...]

53 Dass die im vorliegenden Fall in Rede stehenden, in den Art. 125 ff., 299 TCK (tStGB) normierten Straftatbestände bewusst zur Kriminalisierung von Oppositionellen herangezogen werden, ergibt sich ferner aus dem Gutachten von Pro Asyl zur Lage der Justiz in der Türkei, Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug, September 2024, S. 71 f.:

54 "Internationale Institutionen und Menschenrechtsorganisationen, insbesondere die Organe des Europarats, weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass neben den im ersten Teil dieses Abschnitts behandelten Straftaten auch Ermittlungs- und Strafverfahren wegen anderer im türkischen Strafgesetzbuch und im Antiterrorgesetz geregelter Straftaten die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit verletzen. In seinem Bericht über die Meinungsfreiheit in der Türkei aus dem Jahr 2013 stellte Amnesty International fest, dass neben den oben genannten terrorismusbezogenen Straftaten auch die Straftatbestände "Propaganda für eine terroristische Organisation" (Art. 7 Abs. 2 Antiterrorgesetz), "Druck oder Veröffentlichung von Erklärungen oder Stellungnahmen terroristischer Organisationen" (Art. 6 Abs. 2 Antiterrorgesetz), "Verunglimpfung der türkischen Nation, des Staates der Republik Türkei, der staatlichen Institutionen und Organe" (Art. 301 tStGB), "Entfremdung der Bevölkerung vom Militärdienst" (Art. 318 tStGB), "Beleidigung" (Art. 125 tStGB), "Verherrlichung einer Straftat und eines Straftäters" (Art. 215 tStGB) und "Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft oder Verunglimpfung" (Art. 216 tStGB) sehr häufig zur Kriminalisierung von Oppositionellen herangezogen werden und empfiehlt, dass einige dieser Normen ganz abgeschafft und andere geändert werden sollten. Ein Bericht von PEN International aus dem Jahr 2018 weist auf die Zunahme von Strafverfahren wegen "Herabwürdigung religiöser Werte" (Art. 216 Abs. 3 tStGB), "Beleidigung der Regierung" (Art. 301 Abs. 1 tStGB) und "Beleidigung des Staatspräsidenten" (Art. 299 tStGB) hin, die während der AKP-Herrschaft aufgrund von Meinungsäußerungen eingeleitet wurden. Die ungerechtfertigten unverhältnismäßigen Eingriffe in die Rechte und Freiheiten durch Ermittlungs- und Strafverfahren sowie Verurteilungen wegen entsprechender Straftaten waren Gegenstand zahlreicher Urteile des EGMR. Da die Urteile des EGMR hinsichtlich der erforderlichen Änderungen in Gesetzgebung und Praxis bislang nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurden, überwacht das Ministerkomitee des Europarates weiterhin die Umsetzung der Urteile." [...]

82 Die zusammenfassende Würdigung der gegenwärtigen Erkenntnislage ergibt damit, dass die fallrelevanten Straftatbestände vom türkischen Staat als "verfolgungsgeeignetem" Akteur (vgl. § 3c Nr. 1 AsylG) gezielt als Mittel genutzt werden, missliebige politische Opposition über das Vehikel des Strafverfahrens mindestens einzuschüchtern, wenn nicht gar gänzlich zum Schweigen zu bringen [...]. Die diskriminierende Strafverfolgung erfolgt dabei nicht nur gegenüber exponierten Personen, wie dies bei Journalisten oder Oppositionspolitikern der Fall ist, sondern auch hinsichtlich "einfacher" Oppositionellen. Dies veranschaulicht der vorliegende Fall eindrücklich, in dem der Inhalt des vom Kläger am 29. Juni 2022 abgesetzten Tweets unter die weit gefassten Straftatbestände der Art. 125 ff., 299 TCK (tStGB) subsumiert und die hieraus abgeleiteten strafrechtlichen Vorwürfe der "Beleidigung eines Amtsträgers aufgrund seiner Position" und der "Beleidigung des Präsidenten" zum Gegenstand zweier Anklagen sowie zur Grundlage für den Erlass eines Festnahme- und eines Haftbefehls gemacht wurden.

83 (3) Diese diskriminierende Strafverfolgung stellt sich auch als schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar.

84 Wenngleich im vorliegenden Fall keine der grundlegenden Menschenrechte, von denen Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässt, betroffen sein mögen, so kann gleichwohl eine schwerwiegende Verletzung eines anderen grundlegenden Menschenrechts vorliegen (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012 - C-71/11 und C-99/11, "Y" und "Z" - Rn. 57). Dies ist hier in Form der Beeinträchtigung der Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK zum einen und des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK zum anderen der Fall. Insbesondere die Meinungsäußerungsfreiheit gehört zu den Fundamenten einer demokratischen Gesellschaft und stellt damit ein grundlegendes Menschenrecht dar [...]. Die konkrete Strafverfolgung des Klägers stellt keine mit Art. 10 EMRK vereinbare Ahndung unzulässiger Schmähkritik [...] an dem türkischen Staatspräsidenten und dem damaligen Innenminister dar, sondern schränkt seine durch die türkische Verfassung gewährleistete Meinungsäußerungsfreiheit [...] in unverhältnismäßiger Weise ein. In diese Wertung ist auch einzustellen, dass der Kläger vorgetragen hat, zum wiederholten Male wegen des Veröffentlichens missliebigen oppositionellen Inhalts Subjekt strafrechtlicher Verfolgung zu sein. So hat er in seiner Anhörung bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und auch nochmals vor dem erkennenden Einzelrichter vorgetragen, bereits im Jahr 2016 für auf Facebook veröffentlichten Inhalte empfindlich bestraft worden zu sein, nämlich zu fünf Jahren auf Bewährung einschließlich der Verhängung einer Ausreisesperre. [...]

86 Nach diesen Maßstäben liegt der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Konnex zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund vor. Zwar ist Charakteristikum strafrechtlicher Verfolgung – auch in der Türkei – ihre aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Neutralität, da durch die Konzentration des Gewaltmonopols für den Bereich des Strafrechts bei den hierzu legitimierten staatlichen Stellen jeder gleichermaßen betroffen sein kann (vgl. beispielhaft § 160 Abs. 1 der türkischen Strafprozessordnung, der wie § 160 Abs. 1 StPO die Amtsermittlungspflicht bei einem Anfangsverdacht normiert). Allerdings belegen die oben angeführten Erkenntnismittel, dass das Strafverfahren gezielt in diskriminierender Weise instrumentalisiert wird, um von der Regierungslinie abweichende, politisch anders Denkende bewusst zum Subjekt eines Strafverfolgungsverfahrens zu machen, um zu versuchen, sie wegen ihrer anderslautenden, missbilligten politischen Einstellung zur Lage und den Rechten der Kurden regelrecht "mundtot" zu machen.

87 dd) In Ansehung der vorangehenden Ausführungen ist die Furcht des Klägers vor seiner Verfolgung auch begründet. Im Falle seiner gedachten Rückkehr in die Türkei wird er im Lichte der gegenwärtigen Erkenntnislage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht auf eine unabhängige Justiz treffen und kein faires Verfahren zu erwarten haben, sondern angesichts seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und der hieraus resultierenden oppositionellen Haltung zu den eigene Rechte der Kurden negierenden türkischen Staatsregierung diskriminierender Strafverfolgung unterliegen. [...]