Gefahr politischer Verfolgung im Iran bei Nachweis von Schrotkugeln im Körper:
"Nach der Auskunftslage leben Tausende oder sogar Zehntausende Iraner nach ihrer Teilnahme an Protesten weiterhin mit den Schrotkugeln im Körper aus Angst davor, dass sie im Fall einer Behandlung im Krankenhaus bei der Polizei angezeigt würden (Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 8.2.2024). Dieser Personenkreis ist unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (juris: EURL 95/2011) einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr ausgesetzt, weil die Schrotkugeln im Körper den Betreffenden bei Anfertigung eines Röntgenbildes aus Sicht der iranischen Sicherheitskräfte zuverlässig als Oppositionellen und zu bekämpfenden Gegner "ausweisen" (Rn. 22)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
28 aa) Es steht zunächst fest, dass der Kläger am 16. November 2019 mit Schrotmunition angeschossen wurde. Dies stellt die Beklagte nicht in Frage und wird durch das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 15. Juli 2024 bestätigt. Nach den Ausführungen der Sachverständigen erscheint es aus rechtsmedizinischer Sicht sehr wahrscheinlich, dass der Kläger durch den Einsatz von Schrotmunition im Bereich des Schädels, des Gesichtes und der Lunge zeitnah vor der im Krankenhaus dokumentierten Untersuchung verletzt worden ist.
29 bb) Auch die Täterschaft der iranischen Sicherheitskräfte steht fest. Hierfür spricht der zeitliche Zusammenhang. Berichten zufolge sei gegen die Protestierenden massive Gewalt angewendet worden, soweit, dass Sicherheitsbeamte gezielt auf die Köpfe und lebenswichtigen Organe der Demonstrierenden und von Unbeteiligten geschossen hätten. Dabei seien in den Tagen zwischen dem 15. und 19. November mindestens 304 Personen in 37 Städten getötet worden [...]. Die Röntgenbilder aber datieren – hierzu passend – vom 16. November 2019 und die weitere medizinische Dokumentation vom 17. November 2019. Auch das Auswärtige Amt führt in seiner Auskunft vom 8. Februar 2024 aus, dass bei den Benzinpreisprotesten 2019 Polizei und bewaffnete Sicherheitskräfte u.a. mit Schrotflinten und anderen Waffen gegen Demonstrierende vorgegangen seien, und auch gezielt auf bestimmte Körperteile wie Herz, Hals, Kopf, Augen geschossen worden sei. Es gebe zahlreiche Berichte darüber, dass Verletzte, zum Teil mit Unterstützung des Klinikpersonals, vor der Polizei aus den Krankenhäusern entkommen seien.
30 Alternative Tatabläufe – insbesondere eine Auseinandersetzung zwischen Kriminellen oder ein Jagdunfall – kommen nicht ernsthaft in Betracht. Nach der vom Gericht beigezogenen Ausländerakte bestehen keine Anzeichen dafür, dass sich der Kläger in einem kriminellen Milieu bewegt haben könnte. Der Kläger ist in Deutschland nicht mit Straftaten in Erscheinung getreten. Ein Jagdunfall ist ebenfalls unwahrscheinlich, weil es sich bei der Stadt Shiraz um eine iranische Großstadt – kein Jagdrevier – handelt.
31 b) Der Umstand, dass der Kläger bereits verfolgt wurde, ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Kläger erneut von Verfolgung bedroht wird. Im vorliegenden Fall ist der Kläger schon deshalb erneut von Verfolgung bedroht, weil die Schrotkugeln in seinem Körper ihn aus Sicht der iranischen Sicherheitskräfte zuverlässig als Oppositionellen und zu bekämpfenden Gegner "ausweisen". Nach Aussagen von Opposition sollen Tausende oder sogar Zehntausende nach ihrer Teilnahme an Protesten weiterhin mit den Schrotkugeln im Körper leben aus Angst davor, dass sie im Fall einer Behandlung im Krankenhaus bei der Polizei angezeigt würden (Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 8.2.2024). Hiervon ausgehend müsste der Kläger etwa bei der Anfertigung eines Röntgenbildes von seinen Zähnen beim Zahnarzt damit rechnen, denunziert zu werden, weil sich Schrotkugeln im Bereich seines Kiefers und damit der Zähne befinden. Ebenso wie ein Röntgenbild vom Schädel würde auch ein Röntgenbild vom Thorax – die Schrotkugeln in der Lunge – den Kläger als vermeintlichen Regimegegner offenbaren (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG: die bloße Zuschreibung eines politischen Merkmals genügt). [...]