BlueSky

VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 29.10.2024 - 10 A 2350/23 - asyl.net: M33047
https://www.asyl.net/rsdb/m33047
Leitsatz:

Keine besonders exponierte Stellung von Oppositionellen mehr erforderlich: 

1. Die verschärfte Bedrohungslage für Regimegegner*innen im Iran und exilpolitisch aktive Iraner*innen im Ausland führt dazu, dass eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht mehr nur für Personen besteht, die in einer besonders exponierten Stellung als Oppositionelle in die Öffentlichkeit getreten sind, sondern auch für abgeschwächte Formen exponierter oppositioneller Aktivitäten. Personen, die eine wichtige Stellung in der iranischen Diaspora einnehmen, Aufgaben bei Demonstrationen übernehmen, wie die Anmeldung und Organisation (u.a. Ordner*innen oder Redner*innen) oder in den persischsprachigen Nachrichtensendern Man-o-to, Iran International, BBC Farsi sowie "Voice of America 365" auftreten, entsprechen diesem Profil. 

2. Es ist davon auszugehen, dass exilpolitische Aktivitäten im Ausland von den iranischen Sicherheitskräften überwacht werden und Aktivist*innen Opfer gezielter Einschüchterungsmaßnahmen werden. Zurückkehrende Iraner*innen müssen bei einer Einreise in den Iran Verhöre, Durchsuchungen und Verhaftungen befürchten. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Iran, Exilpolitik, Verfolgungsgefahr, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28
Auszüge:

[...]

23 a) Das Gericht entnimmt den eingeführten Erkenntnisquellen, dass eine (exil-)oppositionelle Betätigung für iranische Staatsangehörige ein nicht bloß unerhebliches Gefährdungspotential birgt, das sich im Einzelfall zu einer nach §§ 3 ff. AsylG relevanten Verfolgung verdichten kann.

24 Nach den Angaben des Auswärtigen Amtes in seinem (aktuellen) Lagebericht aus April 2024 wird in Iran gegen Regimekritiker und Aktivisten unerbittlich vorgegangen. Das Auswärtige Amt führt hierzu u.a. aus, dass es regelmäßig zu "ungeklärten" Todesfällen in Gefängnissen oder kurz nach Haftentlassungen komme [...]. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übe, sich für Menschenrechtsthemen engagiere oder journalistisch beziehungsweise in den Sozialen Medien darüber berichte, setze sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus [...].

25 Zu im Ausland lebenden iranischen Staatsangehörigen, die sich öffentlich regimekritisch äußerten, gibt das Auswärtige Amt in seinem aktuellen Lagebericht ferner an, dass diese mit Repressionen und Strafverfolgung rechnen müssten [...]. Insoweit hat das Auswärtige Amt gegenüber früheren Erkenntnissen [...] die Bedrohungslage erneut verschärft dargestellt. Bereits zuvor hatte das Auswärtige Amt auf eine Anfrage des Verwaltungsgerichts Oldenburg eine Verschärfung der Bedrohungslage mit einer Zunahme der Repressionen gegen im Exil lebende Iraner begründet [...] sowie damit, dass vermehrt Festnahmen und Verhaftungen von zurückgekehrten Iranern beobachtet worden seien [...]. Seit 2009 gebe es verstärkt Hinweise auf gezielte Einschüchterungsmaßnahmen seitens iranischer Sicherheitsbehörden gegen im Ausland lebende Oppositionelle, etwa durch Anrufe, Droh-E-Mails und auch – so in der Türkei – durch physische Angriffe. Dies betreffe vor allem prominente Vertreter in Iran verbotener Oppositionsgruppen, die bei einer Rückkehr mit sofortiger Inhaftierung zu rechnen hätten. Weiter sei zu beobachten, dass Teilnehmer irankritischer Demonstrationen bei späteren Besuchen in Iran von den Sicherheitsdiensten zu ihren Aktionen befragt würden [...]. Es sei davon auszugehen, dass jegliche exilpolitischen Aktivitäten von Iranern im Ausland überwacht würden, die iranischen Behörden über die Teilnahme an Protestveranstaltungen und Äußerungen in den sozialen Medien informiert seien und dass sowohl exilpolitische Betätigung im Internet als auch außerhalb des Internets Repressionen nach sich ziehen könnten [...]. Diese Personen würden nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes dann bei einer Einreise nach Iran eingehenden Durchsuchungen und Verhören unterzogen. Dies gelte sowohl für Schrifterzeugnisse im Gepäck als auch für elektronische Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone, Notebooks oder Tablets, deren ausgelesene Daten als Vorwand für strafrechtliche Vorwürfe genutzt würden. Es seien Fälle von hohen Haftstrafen bekannt, die auf einer solchen Grundlage erfolgten [...]. Allein der Umstand, dass eine Person einen Asylantrag gestellt habe, löse keine staatliche Repression aus, Rückkehrer müssten allerdings mit Befragungen rechnen [...]. Nach Erkenntnissen der EUAA werde zwar nicht jeder Rückkehrer bei seiner Einreise streng kontrolliert [...]. Zugleich werde es für iranische Behörden aber immer üblicher, rückehrende Iraner aufzufordern, alle ihre Social-Media-Profile nach einem Auslandsaufenthalt offenzulegen mit dem Ziel, ein Profil über diese Menschen zu erstellen, um sie eines Tages unter Druck setzen zu können [...]. Die Bevölkerung werde zudem streng überwacht, u. a. über ein zentrales Register der ID-Nummern und biometrischer Fotos aller Iranerinnen und Iraner. [...] Unklar ist, ob Gesichtserkennungstechnologie zur Identifikation Demonstrierender auch im Ausland eingesetzt wird [...].

26 Ausgehend von dieser Erkenntnislage, wonach (auch) aufgrund des technischen Fortschritts jedenfalls regelhaft alle oppositionellen Aktivitäten dem iranischen Regime bekannt werden, setzt die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht voraus, dass der Betreffende in exponierter Stellung besonders nachhaltig als Regimefeind in die Öffentlichkeit getreten ist [...]. Für die Frage einer beachtlichen Verfolgungsgefahr bei Rückkehr bleibt allerdings maßgeblich, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen herausheben und ihn als ernsthaften (und gefährlichen) Regimegegner erscheinen lassen [...]. Denn es ist – insbesondere wegen der Zunahme der Protestbewegungen gerade auch im Ausland seit September 2022 – nach der dargestellten Erkenntnislage nicht davon auszugehen, dass jegliche regimekritische Äußerung im Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung bei Rückkehr nach Iran begründet.

27 Hiervon ausgehend ist auch bei einer abgeschwächten Form exponierter oppositioneller Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit möglich. Ob eine solche vorliegt, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Entscheidend ist, ob das Mitglied, der Anhänger oder Sympathisant in die Öffentlichkeit getreten ist und wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates anzunehmen ist [...]. Bedeutung kann dabei in einer Gesamtschau insbesondere dem Ausmaß und der Art der Aktivitäten vor der Ausreise aus Iran, dem Inhalt und Umfang der Tätigkeiten im Ausland und dem (erwarteten) Grad der Aktivitäten nach Rückkehr nach Iran zukommen. Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden sind, umso eher wird dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen [...]. Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung kann auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration entscheidend dafür sein, ob jemand als "Schlüsselperson" in den Fokus der iranischen Behörden gerät. Überwacht werden eher Anführer, Organisatoren und Redner, während etwa einfache Teilnehmer an Demonstrationen eine Überwachung ihrer Aktivitäten und daran anknüpfende "Sanktionen" eher nicht befürchten müssen [...]. Auch spielt die (Art der) Verbreitung von Aktionen in den sozialen Netzwerken eine Rolle. So geraten nach der Erkenntnislage insbesondere Personen, die in den persischsprachigen Nachrichtensendern Man-o-to, Iran International, BBC Farsi sowie "Voice of America 365", der der US-amerikanischen Regierung zuzurechnen ist, zu sehen sind, allein durch die dortige Ausstrahlung in das Blickfeld der iranischen Behörden und Sicherheitsdienste [...].

30 Die Klägerin erläuterte zudem und wies durch Fotos nach, dass sie einige Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland begonnen hat, an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilzunehmen. Insgesamt konnte sie fast 60 Demonstrationsteilnahmen nachweisen. Zahlreiche Veranstaltungen fanden ausweislich der Fotos direkt gegenüber des Generalkonsulats Irans in Winterhude statt. Auf die zur Akte gereichten Fotos wird insoweit wegen der Einzelheiten Bezug genommen. Dabei war die Klägerin nicht bloß "einfache" Demonstrantin. Bei (mindestens) einer Demonstration vor dem Rathaus wirkte sie als Teil einer Performance mit [...], bei fünf weiteren Demonstrationen wirkte die Klägerin als Ordnerin mit blauer Weste nach außen erkennbar mit, zudem hielt sie mindestens zwei, nach eigenen Angaben vier Reden, in denen sie sich kritisch mit der Situation in Iran auseinandersetzte. Bei mehreren Veranstaltungen [...] war sie [...] eine der Leiterinnen. Gemäß § 8 VersG bestimmt die Leiterin den Ablauf der Versammlung. Sie hat während der Versammlung für Ordnung zu sorgen. Sie kann die Versammlung jederzeit unterbrechen oder schließen. Sie bestimmt, wann eine unterbrochene Versammlung fortgesetzt wird. [...] Über einzelne Demonstrationen berichteten zudem die Sender "Man-o-to", "BBC Farsi", "Iran International" und "Voice of America 365". Entsprechende Bilder [...] wurden in Augenschein genommen, auf diesen konnte der Berichterstatter die Klägerin jeweils identifizieren. Auftritte in den genannten Sendern führen ebenso wie die herausgehobene Tätigkeit bei Demonstrationen nach der Erkenntnislage zu einer Gefährdung der abgebildeten Personen in Iran. [...]