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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.01.2025 - A 1 K 7463/24 - asyl.net: M33058
https://www.asyl.net/rsdb/m33058
Leitsatz:

Enge emotionale Bindung zum Kind für Ausfüllen der Elternverantwortung:

1. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG für einen Vater von einer Ermessensreduktion auf Null ausgegangen ist. Der Vater hat eine enge emotionale Beziehung zu seinem Kind. Ein Zusammenleben ist für das Ausfüllen der Elternverantwortung nicht erforderlich.

2. Die Nachholung des Visumsverfahrens ist aufgrund der damit verbundenen Trennung vom Kind nicht zumutbar. Die Aufenthaltserlaubnis darf auch ohne Erfüllung der Passpflicht erteilt werden, weil der Vater durch eine Bescheinigung des togoischen Konsulats nachweisen konnte, dass er für die Passverlängerung nach Togo reisen müsste.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Kleinkind, Kind, Ermessensreduzierung auf Null, rückwirkende Erteilung, Eltern-Kind-Verhältnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Umgangsrecht,
Normen: AufenthG § 5, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

3 1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) legt der Beklagte nicht dar. [...]

7 Er macht im Wesentlichen geltend, eine dauerhafte Trennung des Klägers von seinem Sohn habe zu keinem Zeitpunkt im Raum gestanden. Eine bloß vorübergehende Abwesenheit des Klägers sei dagegen mit den sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Schutzwirkungen vereinbar, zumal der Kläger die persönliche Betreuung seines Sohnes nicht schwerpunktmäßig übernommen habe. Er habe mit seinem Sohn nicht in häuslicher Gemeinschaft gelebt, sondern diesen meist nur am Wochenende gesehen. Es sei - auch wenn das Kind im maßgeblichen Zeitraum noch sehr klein gewesen sei - nicht einleuchtend, weshalb der persönliche Kontakt während der Nachholung des Visumverfahrens nicht durch Videotelefonie hätte aufrechterhalten werden können. Es entspreche außerdem der Normalität familiären Alltags, dass Kinder von Eltern, die sich aufgrund ihres Berufs wochenlang im Ausland aufhielten, ebenso wie Kinder von getrennten Eltern zeitweise nur von einem Elternteil betreut würden. Die Nachholung des Visumverfahrens wäre mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK durchaus vereinbar gewesen und ein reduziertes Ermessen nicht zwingend. Der ausnahmsweise Rückgriff auf § 25 Abs. 5 AufenthG sei nicht notwendig gewesen. [...]

10 Nach der Rechtsprechung des Senats steht § 25 Abs. 5 AufenthG als Regelung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eigenständig neben den die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen regelnden Vorschriften nach dem sechsten Abschnitt des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes. Ein Ausschlussverhältnis zwischen diesen Vorschriften besteht nicht [...].

11 § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ermöglicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ermessens, wenn die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden kann und wenn der Ausländer unverschuldet (§ 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG) an der Ausreise gehindert ist. Neben den Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG müssen auch die in § 5 AufenthG normierten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen vorliegen, sofern die Ausländerbehörde nicht im Wege des Ermessens von diesen absehen kann. [...]

13Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die in § 5 und in den §§ 27 ff. AufenthG vorgesehenen Regelungen zur Vermeidung unzulässiger Eingriffe in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im konkreten Einzelfall ihre Schutzwirkungen nicht voll entfalten können. In Fällen dieser Art kann es verfassungs- und konventionsrechtlich geboten sein, § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anzuwenden und das Bestehen eines rechtlichen Ausreisehindernisses anzunehmen (vgl. hierzu bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10.03.2009 - 11 S 2990/08 - juris Rn. 29). Dies kommt insbesondere bei Ausländern in Betracht, die - wie der Kläger - im Bundesgebiet zunächst erfolglos ein Asylverfahren betrieben haben und sich später mit Blick auf familiäre Bande zu in Deutschland lebenden Personen um einen Aufenthaltstitel bemühen. Denn hier beschränkt § 10 Abs. 3 AufenthG die Anwendung unter anderem solcher Vorschriften, die auch dem Schutz der Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK dienen [...].

18 Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Hier ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen [...]. Dem Kindeswohl dient im Regelfall insbesondere die Wahrnehmung des von der elterlichen Sorge umfassten Umgangsrechts. Dieses Recht ermöglicht es jedem Elternteil, sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zum Kind aufrechtzuerhalten, einer Entfremdung vorzubeugen sowie dem Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen [...].

19 Die Zumutbarkeit einer auch nur vorübergehenden Trennung zwischen einem Elternteil und seinem Kind wird umso eher zu verneinen sein, je mehr davon auszugehen ist, dass hierdurch die emotionale Bindung des Kindes zu diesem Elternteil Schaden nimmt. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt [...].

20 In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht angenommen, im maßgeblichen Zeitraum habe ein nicht nur vorübergehendes rechtliches Ausreisehindernis bestanden. Zwischen dem Kläger und seinem minderjährigen Sohn habe eine unter den Schutz von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK fallende Vater-Kind-Beziehung bestanden. Dies hat es im Einzelnen näher begründet und ausgeführt, dass sich auch eine nur vorübergehende Trennung als unzumutbar dargestellt hätte. [...]

23 Ausweislich der Ausführungen im Tatbestand und in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils hat das Verwaltungsgericht die vom Beklagten angesprochenen Gesichtspunkte in den Blick genommen, jedoch anders gewürdigt, als ihm dies richtig erscheint. Es hat insbesondere in die Betrachtung eingestellt, dass der Kläger (nur) die Wochenenden gemeinsam mit seinem Sohn, seiner Freundin und dem weiteren Kind der Freundin verbringt. Es hat jedoch angenommen, der Kläger habe glaubhaft dargelegt, dass er sich - wie auch die Kindsmutter glaubhaft bestätigt habe - bereits seit der Geburt seines Sohnes im Dezember 2019 (intensiv) um diesen kümmere. Er nehme gemeinsam mit der Mutter Arztbesuche wahr, leiste regelmäßige Unterhaltszahlungen und sei - wie seitens der Sozialpädagogischen Familienhilfe bestätigt werde - eine emotionale Bezugsperson für seinen Sohn. Der Beklagte zeigt im Zulassungsverfahren keine Umstände auf, die auf das Bestehen relevanter Fehler bei dieser im ersten Rechtszug erfolgten richterlichen Überzeugungsbildung schließen lassen. [...]

25 Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, das Ermessen des Beklagten hinsichtlich eines Absehens von der Erteilungsvoraussetzung eines ordnungsgemäß durchgeführten Visumverfahrens sei vorliegend auf Null reduziert. Es sei zu berücksichtigen, dass der Kläger zwar ohne Visum eingereist sei, in diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht absehbar gewesen sei, dass er Vater eines Kindes werden würde. Angesichts dessen liege keine bewusste Umgehung des Visumverfahrens vor. Unabhängig davon sei dem Kläger eine Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens mit Blick auf dessen durch Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK geschützte Beziehung zu seinem Sohn nicht abzuverlangen. Im Fall des Klägers würden einwanderungspolitische Belange mit Blick auf das Kindeswohl zurückgedrängt, so dass sich einzig ein Absehen von dieser Erteilungsvoraussetzung als rechtmäßige Ermessensausübung darstelle. Dasselbe gelte hinsichtlich der Erfüllung der Passpflicht, da die Beantragung eines neuen Passes ausweislich der Bescheinigung des togoischen Honorarkonsuls vom 03.09.2021 einer Ausreise des Klägers nach Togo bedurft hätte.

26 Auf diese konkrete Tatsachenwürdigung des Verwaltungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung geht der Beklagte nicht ein. Mit seiner nicht näher substantiierten Behauptung, eine Ermessensreduzierung auf Null sei vorliegend nicht "zwingend", genügt er nicht den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO.

27 Der Sache nach betrifft diese sich auf ein Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen beziehende Kritik des Klägers wiederum das Ergebnis richterlicher Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO). Hieraus ergeben sich indes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung. [...]