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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 17.12.2024 - A 5 K 2398/23 - asyl.net: M33060
https://www.asyl.net/rsdb/m33060
Leitsatz:

Palästinenser*innen aus Gaza sind ipso facto-Flüchtlinge:

Palästinenser*innen, die bei UNRWA registriert sind und dessen Unterstützung in Anspruch genommen haben, sind ipso facto Flüchtlinge, da der Schutz durch das UNRWA in Gaza-Streifen nicht mehr gewährt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Palästinenser, Gaza-Streifen, ipso facto-Flüchtlinge, UNRWA
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

18 Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen vor. [...]

35 3. Die Anwendung des § 3 Abs. 1 AsylG ist hier durch den Ausschlussgrund des § 3 Abs. 3 S. 1 AsylG nicht gesperrt; die – stattdessen zu prüfenden – Voraussetzungen des ipso-facto-Flüchtlingsschutzes gem. § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG sind erfüllt. Nach den vorstehend wiedergegebenen Maßgaben ist der Schutz von UNRWA aus Gründen entfallen, die vom Willen des Klägers unabhängig sind.

36 Der Schutz oder Beistand von UNRWA für Staatenlose palästinensischer Herkunft im Gazastreifen wird zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt. Sowohl die Lebensbedingungen im Gazastreifen als auch die Fähigkeit von UNRWA, seine Aufgabe zu erfüllen, haben sich aufgrund der Folgen der Ereignisse des 07.10.2023 in noch nie dagewesener Weise verschlechtert [...]. Dem Kläger ist es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht möglich oder zuzumuten, in den Gaza-Streifen zurückzukehren und sich erneut dem Schutz von UNRWA zu unterstellen. Das Gericht geht schließlich aktuell in ständiger Rechtsprechung (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 07.03.2024 - A 5 K 1560/22 -, juris und seither ständig [...] – ebenso wie in einhelliger Weise die Verwaltungsgerichtsbarkeit insgesamt – davon aus, dass bei einer Rückkehr in den Gaza-Streifen für Zivilpersonen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht. [...]

41 Die gegenwärtige Lage im Gazastreifen überschreitet offenkundig die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und belegt, dass UNRWA objektiv keinen Schutz und Beistand leisten kann. Dies gilt selbst dann, wenn – wobei zu dieser Annahme allerdings nicht ohne Weiteres Anlass besteht – die Angaben zu den Todesopfern und Verletzten (im Wesentlichen durch das Ministry of Health in Gaza) deutlich übertrieben sein sollten und überdies selbstredend nicht nur Zivilisten zu den Opfern zählen. Es liegt auf der Hand, dass die großflächigen Zerstörungen durch die zahlreichen Luftangriffe und die intensiven Kampfhandlungen am Boden eine (auch rechtlich) erhebliche Anzahl an Opfern in der Zivilbevölkerung gefordert haben und täglich weiter fordern [...]. Es existieren Berichte, denen zufolge beträchtliche Zahlen von zivilen Opfern als Kollateralschäden bei der Eliminierung von Hamas-Kämpfern – und womöglich selbst bei Zielidentifizierung durch bzw. mithilfe von künstlicher Intelligenz – bewusst hingenommen werden, sodass Bewohner des Gaza-Streifens jederzeit gefährdet sind [...].

42 Mit einem baldigen Ende der offenen Kampfhandlungen oder des Konflikts ist nicht zu rechnen [...]. Dem israelischen Ministerpräsidenten zufolge wird der Krieg noch viele Monate dauern [...]. Der nationale Sicherheitsberater Israels geht von einer Dauer der Kämpfe bis mindestens Ende des Jahres (2024) aus [...]; an den Prognosen hat sich aktuell nichts geändert. Selbst wenn es gelingen sollte, eine mehr als nur kurzzeitige Waffenruhe zu vereinbaren, würde dies prognostisch an der Beurteilung der zur Zuerkennung subsidiären Schutzes führenden und den Wegfall der Leistungsfähigkeit von UNRWA begründenden Lage nicht absehbar etwas ändern. In diese Beurteilung ist gleichermaßen einzustellen, dass die seit Jahren ohnehin schon volatile und eskalationsanfällige Situation im Gaza-Konflikt auch bereits vor dem Kriegsausbruch im Oktober 2023 – vor dem Hintergrund der mehr als 16-jährigen Abriegelung und Blockade durch Israel – so beschaffen war, dass in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung Gaza-Palästinensern vielfach subsidiärer Schutz zuerkannt wurde [...]. Auch der UNHCR schätzt die Lage in Gaza schon seit geraumer Zeit so ein, dass sie einen vernünftigen Grund im Sinne von Art. 1 Abschnitt D Genfer Flüchtlingskonvention darstellen kann, das Schutzgebiet von UNRWA zu verlassen, oder aber auch einen Grund dafür, dem Betroffenen wegen der in wirtschaftlicher und humanitärer Hinsicht als absolut prekär einzuschätzenden Lage nationalen Abschiebungsschutz zu gewähren [...]. Die Zahl derer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wurde auch schon vor dem aktuellen Krieg auf 1,3 Mio. Menschen im Gaza-Streifen geschätzt [...]. Das Welternährungsprogramm bezeichnet die humanitären Umstände im Gaza-Streifen schon lange als alarmierend; Armut und Nahrungsmittelunsicherheit betrafen auch schon zuvor 53 bzw. 68,5 % der Bevölkerung [...]. Zugleich ist Gaza einer der am dichtesten bevölkerten Orte der Welt. Die medizinische Versorgungslage im Gaza-Streifen wurde schon immer aufgrund der Abriegelung als katastrophal beschrieben. [...]