Vulnerablen Anerkannten droht Verelendung in Lettland:
Keine Überstellung nach Lettland wegen drohender Verelendung, wenn Kinder betroffen sind. Zwar haben die Eltern selbstverschuldet dazu beigetragen, dass sie aus dem staatlichen Integrations- und Unterstützungsprogramm herausgefallen sind. Da der Schutz des Familienlebens die Trennung von Eltern und Kindern verbietet, ist auch die Überstellung der Eltern unzulässig.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
a) Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Unzulässigkeitsentscheidung, die ihre rechtliche Grundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet, ist rechtswidrig. Das Bundesamt durfte die Asylanträge der Kläger nicht als unzulässig ablehnen, weil den Klägern zu 3 bis 8 in Lettland Verelendung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK droht [...].
Ein Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta kann erst angenommen werden, wenn unabhängig hiervon eine Situation extremer materieller Not einträte, die es nicht erlaubte, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, [...] wobei diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit selbst durch große Armut oder starke Verschlechterungen der Lebensverhältnisse grundsätzlich nicht erreicht wird [...]. Allerdings muss unterschieden werden zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits, für die diese harte Linie gilt, sowie andererseits Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, also Vulnerablen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist. Der Bedarf, den Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich kranke oder behinderte Menschen und sonstige vergleichbar vulnerable Personen im Dublinraum haben, um den Eintritt eines Art. 4 GR-Charta-Verstoßes zu vermeiden, ist mithin gegenüber gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen regelmäßig ein anderer bzw. höherer. Bei Vulnerablen ist deshalb vor Rücküberstellung gegebenenfalls eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung der Zielstaatsbehörden einzuholen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 41).
Danach ist zunächst festzustellen, dass es sich bei den minderjährigen Kindern der Kläger zu 1 und 2, um Vulnerable handelt, für die ein höherer Schutzstandard gilt als für gesunde, arbeitsfähige Flüchtlinge. Daran gemessen dürfen sie nicht nach Lettland überstellt werden, weil ihnen dort Verelendung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK insbesondere durch Obdachlosigkeit droht. Durch den Weggang aus Lettland und den seit der Zuerkennung des internationalen Schutzes am 14.02.2023 verstrichenen Zeitraum ist die Familie aus dem grundsätzlich für anerkannte Schutzberechtigte in Lettland bestehenden Unterstützungssystem herausgefallen. [...]
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die achtköpfige Familie sich durch Arbeitsleistungen des Klägers zu 1 in Lettland über Wasser halten könnte. Dieser hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft berichtet, dass er sich in Lettland um Arbeit bemüht habe, wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der Sprachbarriere aber keine gefunden habe. Diese Situation wird durch die vorliegenden Erkenntnismittel bestätigt (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Hamburg vom 20.07.2018, S. 3 f.; UNHCR, Refugee voices in integration in Estonia, Latvia and Lithuania, 01.05.2021, S. 30). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1 gesundheitlich angeschlagen ist und nicht voll körperlich belastbar ist und daher nicht jede körperliche Tätigkeit ausüben kann. [...] Dies schließt die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zwar nicht aus - wie auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung angab - erschwert die Suche nach einer Arbeit jedoch zusätzlich.
Zwar haben die Kläger zu 1 und 2 dadurch, dass sie Lettland bereits wenige Tage nach der Zuerkennung des internationalen Schutzes verlassen haben, ihr Herausfallen aus dem staatlichen Aufnahme- und Integrationsprogramm selbst durch eine persönliche Entscheidung herbeigeführt. Dieses Versäumnis kann allerdings nicht ihren dafür nicht verantwortlichen Kindern, den Klägern zu 3 bis 8, zugerechnet werden. Ihnen kann allein wegen des Verhaltens ihrer Eltern nicht entgegengehalten werden, sie könnten sich jetzt nicht mehr auf eine drohende Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK in Lettland berufen. Vielmehr sind ihre Grundrechte bei der Entscheidung der Beklagten in vollem Umfang einzustellen. Da ihnen nach dem Ausgeführten in Lettland Obdachlosigkeit und Verelendung drohte, würde ihre Überstellung ihre Grundrechte aus Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK verletzen. Sie ist deshalb zu unterlassen. Damit ist auch die Unzulässigkeitsentscheidung bezüglich ihrer Asylanträge in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids aufzuheben.
Dies gilt auch für die Asylanträge der Kläger zu 1 und 2. Denn die rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung erstreckt sich auch auf die Kläger zu 1 und 2. Zwar haben sie nach den oben dargelegten Maßstäben den drohenden Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK durch persönliche Entscheidung herbeigeführt, sodass sie diesen Umstand, stünde nur ihre eigene Überstellung in Rede, ihrer Abschiebung nicht entgegenhalten könnten. Der grundrechtlich gebotene Schutz des Familienverbandes, insbesondere bei Eltern mit Kleinkindern, verbietet aber eine Trennung der Kläger zu 1 und 2 von den Klägern zu 3 bis 8. Die Kläger zu 1 und 2 dürfen nicht ohne ihre Kinder nach Lettland abgeschoben werden. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung auch der Entscheidung über die Zulässigkeit ihrer Asylanträge mit Blick auf die Zumutbarkeit der Rückkehr in den schutzgewährenden Mitgliedstaat [...] ist daher der Familienverband als Ganzes. Dieser darf hier wegen der Gefahr der Verelendung der Kinder nicht nach Lettland überstellt werden. Das führt dazu, dass die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung auch bezüglich der Asylanträge der Kläger zu 1 und 2 rechtswidrig und aufzuheben ist. [...]