Abschiebungsverbot für bisexuellen Mann wegen drohender Inhaftierung:
Einem bisexuellen Mann droht bei einer Inhaftierung in der Türkei unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen und queeren (LGBTIQ) Personen droht in der Haft in der Türkei Isolation, Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexuelle Belästigung. Es ist ihnen nicht erlaubt, Kontakte zu knüpfen, mit anderen zu sprechen und an sportlichen Aktivitäten teilzunehmen. Diese Situation wird zur physischen und psychischen Folter.
(Leitsatz der Redaktion; Siehe auch EGMR, Urteil vom 9. Oktober 2012 – 24626/09)
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Nach diesem Maßstab droht dem Kläger bei der Abschiebung die ernsthafte Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Der Berichterstatter ist aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gelangt, dass der Kläger bisexuell ist, ihm im Falle der Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung und im Rahmen dessen auf Grund seiner Bisexualität in der Haft unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen drohen.
Der Kläger ist zur Überzeugung des Berichterstatters bisexuell. Die bisexuelle Orientierung ist im Strafvollstreckungsheft zu der vom Kläger zu verbüßenden Maßregel, das auch mehrere psychiatrische Gutachten enthält, zahlreich dokumentiert. Auch die Anlasstat, die zu der Unterbringung des Klägers im Krankenhaus des Maßregelvollzuges führte, verübte der Kläger gegen einen Mann, mit dem er eine sexuelle Beziehung hatte. Letztlich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung Einsicht in seinen seit dem Jahr 2021 bestehenden Account auf der Datingplattform GayRomeo gewährt, auf der er in Kontakt mit mehreren Männern und trans-Frauen steht und entsprechende Chatverläufe vorgelegt. Seit seiner Verlegung auf die offene Station des Krankenhauses des Maßregelvollzuges wird ihm eine HIV-Präexpositionsprophylaxe verschrieben, deren Einnahme unter anderem für Männer, die Sex mit Männern haben, empfohlen ist [...]. Dies hat auch der sachverständige Zeuge ..., der behandelnde Psychiater des Klägers im Krankenhaus des Maßregelvollzugs, mitgeteilt. Vor diesem Hintergrund sind die Angaben des Klägers, wonach er sich neben seiner Partnerschaft mit einer Frau regelmäßig über GayRomeo sowohl mit Männern, als auch mit trans-Frauen trifft und sexuelle Beziehungen mit ihnen hat, glaubhaft. Der Zeuge hat auch im Übrigen in der Vernehmung plausibel dargelegt, dass und in welchem Umfang die sexuelle Orientierung des Klägers im Rahmen der Behandlung und der Deliktaufarbeitung eine Rolle spielt. Auch der Umstand, dass der Kläger nach seiner Ankunft in Berlin in einer von der Schwulenberatung Berlin betriebenen Unterkunft wohnte, spricht für die vorgetragene Bisexualität. Dass der Kläger zweimal mit einer Frau verheiratet war und derzeit erneut eine Partnerschaft mit einer Frau führt, neben der er sexuelle Kontakte mit Männern unterhält, stellt sich insofern als Ausprägung seiner sexuellen Orientierung dar. Ist die (gelebte) Bisexualität des Klägers damit vielfältig dokumentiert, ist auch unerheblich, dass der Kläger seine sexuelle Orientierung in seiner Anhörung vor dem Bundesamt stets als homosexuell beschrieben hat.
Dem Kläger droht im Falle der Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Inhaftierung auf Grund von gegen ihn vorliegenden Verurteilungen. [...]
Als bisexueller Mann droht dem Kläger in der Türkei im Rahmen der zu erwartenden Strafhaft auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Es kann dabei dahinstehen, ob dies bereits aus der chronischen Überbelegung diverser Haftanstalten folgt [...]. Denn die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ergibt sich vorliegend aus der sexuellen Orientierung des Klägers. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche und queere (LGBTIQ) Gefangene werden als Häftlinge de facto isoliert, in speziellen Räumen oder Abteilungen untergebracht und können nicht von sozialen und körperlichen Aktivitäten profitieren, die andere Gefangene nutzen können. In einigen Gefängnissen können Transfrauen/Transmänner oder schwule/bisexuelle männliche Gefangene in eigenen Abteilungen untergebracht werden, wenn die Anzahl und die Bedingungen ausreichend sind. Mitglieder von sexuellen Minderheiten gehören zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTIQ-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos. Die häufige Unterbringung in Einzelhaft fördert den Missbrauch der Betroffenen. Überdies ist es ihnen nicht erlaubt, Kontakte zu knüpfen, mit anderen zu sprechen und an sportlichen Aktivitäten teilnehmen. Diese Situation wird zur physischen und psychischen Folter [...]. Auf Grund der gegen einen homosexuellen Häftling auf Grund seiner Homosexualität verhängten Isolationshaft wurde die Türkei in der Vergangenheit bereits durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK i.V.m. Art. 14 EMRK verurteilt [...], wobei eine Veränderung der Situation nach den dargestellten Erkenntnissen nicht zu erkennen ist. [...]