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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 28.01.2025 - 6 Bs 154/24 - asyl.net: M33112
https://www.asyl.net/rsdb/m33112
Leitsatz:

Für die Führung des Haushalts ist keine enge familiäre Bindung erforderlich: 

Die alters- und gesundheitsbedingte Notwendigkeit von Hilfe bei der Führung des Haushalts und der Unterstützung bei der Einnahme von Medikamenten, die durch Familienangehörige wahrgenommen wird, begründet nicht, dass ein erwachsenes Familienmitglied i.S.d. Art. 6 GG auf die Hilfe von Familienmitgliedern angewiesen ist. Ein solcher Unterstützungsbedarf begründet daher kein Abschiebungshindernis i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG und stellt keine familiäre Bindung dar, die einer Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG entgegensteht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1, AufenthG § 59 Abs. 1 Satz 1
Auszüge:

[...]

a) Die Behauptung der Antragstellerin, sie hätte in Indien keinen Zugang zu den notwendigen medizinischen Behandlungen, da die medizinische Infrastruktur in Indien unzureichend sei, ist gänzlich unbelegt. Angesichts des allgemein bekannten Umstands, dass jedenfalls die private medizinische Behandlung in Indien in den größeren Städten, wie Mumbai, auf einem Standard gewährleistet werden kann, der dem westlicher Industriestaaten vergleichbar ist, und Medikamente oft nur eine Bruchteil des in Europa üblichen Preises kosten, ist diese Behauptung zudem schon im Ansatz nicht nachvollziehbar. [...]

b) Die Antragstellerin behauptet weiter, dass sie zwingend auf die Lebenshilfe ihrer im Bundesgebiet lebenden Söhne angewiesen sei, was ihre Rückkehr nach Indien unmöglich mache. Gegen die Argumentation des Verwaltungsgerichts, es sei nicht ersichtlich, dass sich die Antragstellerin nicht weiterhin wechselnd in Indien und in Deutschland aufhalten könne, wendet sie ein, dass im ärztlichen Attest vom ... 2024 festgehalten worden sei, dass die notwendige Versorgung und Pflege nur durch die familiäre Betreuung in Deutschland gewährleistet werden könne. Diese ärztliche Feststellung erweist sich als nicht belastbar. Sie beruht ausweislich des genannten Attestes auf den Berichten der Antragstellerin bzw. ihrer Angehörigen ("Basierend auf der Anamnese und den Berichten der Pat. und ihrer Angehörigen ist in Indien keine vergleichbare medizinische Versorgung möglich."), dass in Indien keine vergleichbare medizinische Versorgung möglich sei. Diese Behauptung ist weder substantiiert, noch nachgewiesen noch nachvollziehbar. Auf die Ausführungen unter 1a) wird Bezug genommen.

Soweit im ärztlichen Attest vom ...  2024 erstmals berichtet wird, dass die Antragstellerin seit dem Tod ihres Ehemannes unter erheblichen psychischen Belastungssymptomen mit Ängsten und Anpassungsstörungen leide, fehlt es an einer belastbaren medizinischen Diagnose. [...]

Erstmals im ärztlichen Attest vom ... 2024 wird zudem von "arthrotischen" Veränderungen an den Fingergelenken beider Hände berichtet, aufgrund derer die Antragstellerin nicht in der Lage sei, ihren Alltag zu bewältigen, insbesondere auch hinsichtlich Körperpflege und Ernährung. Auch dieser Vortrag ist nicht glaubhaft gemacht. Eine entsprechende ärztliche Diagnose ist in den dem Gericht zur Verfügung gestellten Attesten von Dr. ... nicht enthalten. [...]

c) Soweit es in der mit der Beschwerde eingereichten Erklärung vom ... 2024 heißt, dass "es uns aufgrund beruflicher und finanzieller Einschränkungen nicht möglich [sei], unsere Mutter regelmäßig nach Indien zu begleiten", da diese Reisen "stets mit unbezahltem Urlaub verbunden" gewesen seien, bezieht sich die Erklärung nach dem Wortlaut nur auf die beiden Söhne. Es ist nicht dargelegt, dass auch deren beide Ehefrauen und die beiden weiteren Familienangehörigen, die an der praktizierten Besuchsregelung beteiligt waren, insoweit nicht mehr zur Verfügung ständen.

Ergänzend weist der Beschwerdesenat darauf hin, dass der von der Antragstellerin glaubhaft geschilderte Unterstützungsbedarf, der in einer Hilfe beim Anziehen und sich aus ihren Mobilitätseinschränkungen ergibt, kein Abschiebungshindernis begründet. [...]

bb) Unabhängig davon begründet die geltend gemachte Notwendigkeit der Hilfe beim Anziehen, bei der Einnahme von Medikamenten und ggf. bei alltäglichen Aufgaben im Haushalt, wie z.B. möglicherweise Haushaltsreinigung, selbst wenn dieser derzeit durch Familienangehörige erbracht werden würde, kein Abschiebungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 GG. [...]

Der von der Antragstellerin dargestellte Hilfe- und Unterstützungsbedarf erfüllt diese hohen Anforderungen nicht. Die Antragstellerin ist nicht zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen. Bei der Führung des Haushalts und der Einnahme von Medikamenten handelt es sich um eher allgemeine und gerade im Alter übliche und verbreitete Unterstützungshandlungen im Alltag, die regelmäßig und üblicherweise durch Personen wahrgenommen werden, zu denen kein engeres familiäres Verhältnis besteht. Es ist auch im Hinblick auf die Funktion der Familie als Beistandsgemeinschaft unter Abwägung einwanderungspolitischer Gesichtspunkte nicht unzumutbar, die erwachsene Antragstellerin diesbezüglich auch nach dem Tod ihres Ehemannes auf die Inanspruchnahme von professioneller (Haushalts-)Hilfe zu verweisen; es ist insoweit weder ersichtlich noch dargelegt, dass ihr bei der Inanspruchnahme von professioneller Hilfe ein Leben in Würde nicht mehr möglich wäre. Zudem ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass im Herkunftsland angebotener professioneller Beistand ihren Bedürfnissen qualitativ nicht gerecht werden könnte. Auch ist der alters- bzw. krankheitsbedingte Autonomieverlust noch nicht so weit fortgeschritten, dass der Wunsch der Antragstellerin nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückzuziehen zu wollen, um so den Verlust der Autonomie infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können. [...]