Repressionen gegen Familienangehörige sind kein "belangloser" Vortrag:
1. Werden im Asylverfahren polizeiliche Repressionen aufgrund politischer Aktivitäten eines Familienmitglieds vorgetragen und richten sich die staatlichen Maßnahmen gegen die gesamte Familie, ist nicht von einem belanglosen Vortrag im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG auszugehen.
2. Der Vortrag stellt sich dann weder als asylfremd noch vollkommen unsubstantiiert dar. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die "einfache" Ablehnung des Asylantrags der Mutter der Antragsstellerin.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hat den Asylantrag der Antragstellerin zu Unrecht auf der Grundlage von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in der Fassung aufgrund des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54), in Kraft getreten am 27. Februar 2024, als offensichtlich unbegründet abgelehnt. [...]
Ein Vorbringen kann unter anderem dann als belanglos angesehen werden, wenn er in tatsächlicher Hinsicht in wesentlichen Punkten unsubstantiiert ist. Denn dann ist ein Fall gegeben, bei dem sich die Ablehnung geradezu aufdrängt [...].
Ein Vorbringen ferner als belanglos angesehen werden, wenn es von vorneherein keinen Bezug zu den die Schutzgewährung auslösenden Gefahren für den Schutzsuchenden beinhaltet, sich also als "asylfremd" bezeichnen lässt [...].
Darüber hinaus sind die vom Asylantragsteller vorgebrachten Umstände nach allgemeinem Sprachverständnis aber auch dann für die Prüfung des Antrags "nicht von Belang", wenn ihnen bei dieser Prüfung nicht weiter nachgegangen werden muss. Das gilt nicht nur für per se asylfremde Gründe, sondern auch dann, wenn aus dem Vorbringen des Antragstellers oder der Antragstellerin auch ohne vorherige Prüfung der Glaubhaftigkeit wie auch der Übereinstimmung mit aktuellen Erkenntnismitteln zu Gefahren im Herkunftsland, mit anderen Worten also bei Wahrunterstellung, kein Schutzstatus nach Artikel 16a Grundgesetz, § 3 oder § 4 AsylG folgen kann [...].
Dies ist auch dann der Fall, wenn offenkundig Möglichkeiten des landesinternen Schutzes oder einer inländische Fluchtalternative (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG i. V. m. §§ 3d und 3e AsylG) bestehen und der Antragsteller bzw. die Antragstellerin sich darauf verweisen lassen muss [...].
Soll die "Belanglosigkeit" allein auf einen Substantiierungsmangel gestützt werden, muss sich dieser jedoch als derart gravierend darstellen, dass sich selbst bei wohlwollender Betrachtung aus dem Vortrag ein individuelles Verfolgungsschicksal nicht ableiten lässt [...].
Daran gemessen war das Vorbringen der Antragstellerin nicht als belanglos im Sinne von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anzusehen. Das Bundesamt führt zur Begründung der Offensichtlichkeitsentscheidung aus, dass sich erwiesen habe, dass eine asylrelevante Gefährdungssituation vor Ausreise nie bestanden habe. Die Antragstellerin sei ausgereist, weil sie bei ihren Eltern habe bleiben wollen. Diese Begründung wird den oben dargestellten strengen Anforderungen, die an die Begründung einer Offensichtlichkeitsentscheidung gestellt werden, nicht gerecht.
Zunächst beschränkt sich der Vortrag der Antragstellerin entgegen der Auffassung des Bundesamts nicht auf die Aussage, dass sie nur deshalb ausgereist sei, weil sie bei ihren Eltern habe bleiben wollen. Vielmehr hat die Antragstellerin berichtet, dass ihre Familie – also ihre Mutter, ihr Bruder und sie selbst – von verschiedenen polizeilichen Hausdurchsuchungen betroffen gewesen seien. Bei wohlwollender Betrachtung lässt sich dem Vortrag der Antragstellerin also die Aussage entnehmen, dass sie wegen der gegen die Familie – und damit auch gegen die Antragstellerin selbst – gerichteten polizeilichen Maßnahmen den Entschluss gefasst hätten, gemeinsam auszureisen. Der so verstandene Vortrag ist nicht per se asylfremd. Denn die behaupteten polizeilichen Maßnahmen sollen ihren Grund in den oppositionspolitischen Aktivitäten des Vaters der Antragstellerin haben. Dass es in der Türkei zu derartigen Repressionen gegen Familienmitglieder etwa von HDP-Aktivisten kommt, lässt sich auch den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln entnehmen [...].
Zwar erweist sich der Vortrag der Antragstellerin an vielen Stellen als unsubstantiiert. Der Substantiierungsmangel stellt sich nach Ansicht des Gerichts aber nicht als derart gravierend dar, dass allein darauf das Offensichtlichkeitsurteil gestützt werden könnte. [...] Dies gilt umso mehr, als das Bundesamt den Asylantrag der Mutter der Antragstellerin nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Da die Antragstellerin mit ihrer Mutter in einem Haushalt wohnte und beide über die gegen sie gerichteten polizeilichen Maßnahmen berichtet haben, erscheint es dem Gericht geboten, die Antragstellerin und ihre Mutter im Rahmen einer mündlichen Verhandlung informatorisch anzuhören, um beide Vorträge vergleichen zu können. [...]