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SG Karlsruhe

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Zitieren als:
SG Karlsruhe, Beschluss vom 19.02.2025 - S 12 AY 424/25 ER - asyl.net: M33124
https://www.asyl.net/rsdb/m33124
Leitsatz:

Leistungsausschluss bei sog. Dublin-Fällen verfassungs- und europarechtswidrig: 

1. Der Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG für sogenannte Dublin-Fälle verstößt gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und gegen Art. 17 bis 20 der Richtlinie 2013/33/EU, da der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt wird. 

2. Ein Leistungsausschluss bzw. Leistungseinschränkungen sind nicht mit migrationspolitischen Erwägungen zu rechtfertigen. 

(Leitsätze der Redaktion, so auch SG Speyer, Beschluss vom 20.02.2025 – S 15 AY 5/25 ER – asyl.net: M33133) 

Schlagwörter: Dublinverfahren, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungsausschluss, Leistungskürzung, Existenzminimum, Verfassungsmäßigkeit,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, GG Art. 1 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 17 bis 20
Auszüge:

[...]

Der Leistungsausschluss aus § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist voraussichtlich weder mit dem Grundgesetz noch mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar.

§ 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG verletzt voraussichtlich das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Bei § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG handelt es sich um einen vollständigen Leistungsausschluss, der durch das Vorenthalten einer materiellen Existenzgrundlage Einreiseanreize vermeiden und zur Ausreise aus Deutschland motivieren soll. Als solcher ist der Leistungsausschluss erst recht verfassungswidrig, denn selbst bloße Leistungsabsenkungen sind nicht mit migrationspolitischen Erwägungen zu rechtfertigen sind [...]. Ein Leistungsausschluss für Personen, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten, ist auch mit der temporären Reichweite des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren (sog. Aktualitätsgrundsatz bzw. Gegenwärtigkeitsprinzip). Die menschenwürdige Existenz einschließlich des soziokulturellen Minimums muss ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland bis zu deren Ende realisiert werden. Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder -perspektive rechtfertigt nicht, den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Schließlich darf eine vom allgemeinen Existenzsicherungsrecht abweichende Bedarfsbemessung nur erfolgen, wenn wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können. Bei dem neuen Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG für sog. Dublin-III-Fälle, in denen das BAMF den Asylantrag wegen der vorrangigen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG ablehnt, kommt erschwerend hinzu, dass der betroffene Personenkreis nicht innerhalb von zwei Wochen nach Ablehnung des Asylantrages freiwillig ausreisen kann [...].

§ 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 verletzt voraussichtlich auch die europarechtlichen Regelungen über Mindeststandards der Versorgung während des Asylverfahrens aus Art. 17 bis 20 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 Aufnahme-Richtlinie (EURL 2013/33). Diese Mindeststandards sind in den sog. Dublin-III-Fällen anwendbar, solange – wie hier – noch keine endgültige Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergangen ist [...]. Die Mindeststandards dürften gemäß Art. 20 EURL 2013/33 der Aufnahme-Richtlinie zwar eingeschränkt werden. Allerdings liegt hier keiner der abschließend aufgeführten Ausnahmetatbestände vor. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin gegen Vorschriften der Unterbringungszentren, gegen räumliche Beschränkungen oder Melde- und Auskunftspflichten verstoßen oder nicht rechtzeitig Antrag auf internationalen Schutz gestellt oder Vermögen verschwiegen oder Gewalt verübt hätte. Überdies hätte die Unterschreitung des europarechtlichen Mindeststandards eine – im vorliegenden Fall der Antragstellerin fehlende – individuell zu begründende Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie die Gewährleistung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und eine menschenrechtliche Mindestversorgung nach Art. 20 Abs. 5 erfordert. [...]