BlueSky

OVG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 07.02.2025 - 2 B 386/24 - asyl.net: M33128
https://www.asyl.net/rsdb/m33128
Leitsatz:

Kein Erlöschen des Aufenthaltstitels bei schwerwiegenden Fehlern der Ausländerbehörde:

Dem Erlöschen eines Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG kann entgegenstehen, dass ein schwerwiegender Rechts- oder Beratungsfehler der Ausländerbehörde oder einer deutschen Auslandsvertretung ursächlich für das Überschreiten der Wiedereinreisefrist bzw. das Unterlassen eines rechtzeitigen Fristverlängerungsantrags war.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Erlöschen, Ausländerbehörde, Wiedereinreise, Frist,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 10, AufenthG § 81 Abs. 4, AufenthG § 78, BGB 242
Auszüge:

[...]

Eine unerlaubte Einreise könnte sich vorliegend allein aus § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ergeben. Nach dieser Vorschrift ist die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet unerlaubt, wenn er nicht den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel besitzt. Die Antragstellerin besaß bei ihrer letzten Einreise ins Bundesgebiet im Juli oder August 2022 jedoch den erforderlichen Aufenthaltstitel. Sie war zu diesem Zeitpunkt im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. [...]

c) Die Aufenthaltserlaubnis war auch nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen. Die der Wiedereinreise vorangegangene Ausreise war nicht aus einem Grund erfolgt, der seiner Natur nach nicht vorübergehend war. Die Antragstellerin gibt als Zweck der Ausreise im Juli 2020 einen Urlaub an. Zuverlässige Anhaltspunkte dafür, dass dies nicht zutrifft, liegen nicht vor. Dass die Antragstellerin, nachdem ihr die Karte mit der  Aufenthaltserlaubnis abhandengekommen war, bei der deutschen Botschaft in Tunis ein Visum beantragt hat, spricht für ihre Absicht, in einem absehbaren Zeitraum nach Deutschland zurückzukehren. Die Behauptung ihres Ehemanns aus November 2020, die Antragstellerin wolle nicht nach Deutschland zurückkehren, ist nicht ausreichend zum Beweis des Gegenteils. Zwischen beiden Personen besteht ein schwerer privater Konflikt und das gesamte Verhalten des Ehemanns weist eine klare Tendenz auf, die Rückkehr der Antragstellerin verhindern zu wollen. [...]

cc) Jedenfalls war der Aufenthaltstitel der Antragstellerin unter den außergewöhnlichen Umständen des vorliegenden Falls nach dem Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB analog) im Zeitpunkt der Wiedereinreise nicht erloschen.

Der Grund für den Auslandsaufenthalt und für die Überschreitung der Wiedereinreisefrist bzw. für das Unterlassen eines rechtzeitigen Verlängerungsantrags ist für das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zwar grundsätzlich nicht von Belang [...]. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass sich Behörden ausnahmsweise nach dem Rechtsgedanken der §§ 242, 162 BGB nicht auf die Versäumnis einer die Anspruchsberechtigung vernichtenden Ausschlussfrist berufen dürfen, wenn sie die Wahrung der Frist durch eigenes Fehlverhalten treuwidrig verhindert haben (BVerwG, Urt. v. 18.04.1997 – 8 C 38/95, juris Rn. 17). Dem Erlöschen eines Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG kann daher in besonderen Konstellationen ein schwerwiegender Rechts- oder Beratungsfehler der Ausländerbehörde oder einer deutschen Auslandsvertretung entgegenstehen, wenn er für das Überschreiten der Wiedereinreisefrist bzw. das Unterlassen eines rechtzeitigen Antrags auf Fristverlängerung ursächlich war [...]. Dies ist hier der Fall.

aaa) Die Ausländerbehörde der Stadtgemeinde Bremen hat einen schwerwiegenden, schlechterdings nicht nachvollziehbaren Fehler begangen, als sie am 05.02.2021 gegenüber der deutschen Botschaft ihre Zustimmung zur Erteilung eines nationalen Visums an die Antragstellerin versagt hat, ohne die Antragstellerin – ggfs. vermittelt über die deutsche Botschaft – darauf hinzuweisen, dass sie Inhaberin einer gültigen Aufenthaltserlaubnis ist, dass sie deshalb für die Rückkehr nach Deutschland kein Visum benötigt und dass ihr ein neues Dokument über die Aufenthaltserlaubnis (§ 78 oder § 78a AufenthG) ausgestellt bzw. eventuell sogar das alte Dokument zurückgegeben werden kann.

(1) Es war offensichtlich, dass die Antragstellerin damals eine gültige Aufenthaltserlaubnis besaß.

Die Ausländerbehörde der Stadtgemeinde Bremen hatte diese Aufenthaltserlaubnis selbst erteilt. Verlässliche Anhaltspunkte dafür, dass die Aufenthaltserlaubnis zum damaligen Zeitpunkt schon erloschen war, lagen nicht vor.

Der Ausreisezeitpunkt war der Ausländerbehörde bekannt. In der Zustimmungsanfrage der Botschaft vom 28.12.2020 steht "ausgereist aus DEU am: 18.07.2020". Ebenso war der Ausländerbehörde bekannt, dass sie die Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs zu einem Inhaber einer "Blauen Karte EU" ausgestellt hatte. Sie musste daher wissen, dass die Wiedereinreisefrist gem. § 51 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 10 Satz 1 AufenthG nicht sechs, sondern zwölf Monate betrug und mithin noch nicht abgelaufen war.

Dass die Ausländerbehörde am 20.11.2020 dem Ausländerzentralregister gemeldet hatte, die Aufenthaltserlaubnis sei zum 31.10.2020 erloschen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Meldung ging offenbar auf eine E-Mail des Ehemanns der Antragstellerin an die Ausländerbehörde vom 04.11.2020 zurück. In dieser E-Mail hatte der Ehemann behauptet, seine Ehefrau halte sich seit dem 17.07.2020 in Tunesien auf und wolle nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Er bat die Ausländerbehörde sinngemäß, alles Notwendige zu tun, damit die Antragstellerin kein Aufenthaltsdokument mehr erhalte. Die Ausländerbehörde hat anscheinend auf Grundlage dieser E-Mail ein Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG angenommen. Es ist schon vom Erkenntnisstand der Ausländerbehörde am 20.11.2020 aus betrachtet unverständlich, dass eine so schwerwiegende Maßnahme wie die Eintragung einer Aufenthaltserlaubnis als Erloschen im AZR allein aufgrund einer E-Mail des Ehemanns der Aufenthaltserlaubnisinhaberin erfolgt. Dies gilt umso mehr, als sich der E-Mail ein klares Interesse des Ehemanns, eine Wiedereinreise der Antragstellerin zu verhindern, entnehmen lässt und die beigefügte Abmeldung ihres Wohnsitzes in Bremen offensichtlich Fragen aufwarf. Denn die Abmeldung trug ein Datum, an dem sich die Antragstellerin offensichtlich nicht in Deutschland aufgehalten hatte (26.10.2020), und war unleserlich unterschrieben. Spätestens aber als die Ausländerbehörde im Dezember 2020 von der Botschaft darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass die Antragstellerin das Dokument mit ihrem Aufenthaltstitel als verloren gemeldet hat und wieder einreisen möchte, waren erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Ehemanns und damit an einem Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG veranlasst. Aus einer Mitteilung, die die Botschaft der Ausländerbehörde am 22.01.2021 übermittelte, ergab sich zudem, dass die Antragstellerin die Behauptungen ihres Ehemanns bestritten hatte. Daraufhin wandte die Ausländerbehörde sich zur Sachverhaltsaufklärung per E-Mail an den Ehemann. In einem Telefonat vom 04.02.2021 [...] und in einer E-Mail vom selben Tag [...] bekräftigte der Ehemann gegenüber der Ausländerbehörde, dass er sich von seiner Ehefrau getrennt habe und nicht wünsche, dass sie wieder nach Deutschland einreise. Dabei erhob er schwere Vorwürfe gegen die Antragstellerin in Bezug auf ihr Verhalten als Ehefrau und Mutter, die Anlass gaben, an seiner Neutralität und Objektivität zu zweifeln. Er gab in dem Telefonat mit der Ausländerbehörde [...] ferner an, dass er den Aufenthaltstitel der Antragstellerin einbehalten habe, um sie an der Wiedereinreise zu hindern. In der E-Mail kündigte er an, das Dokument bei der Ausländerbehörde in den Briefkasten einzuwerfen [...]. Aufgrund dieses Verhaltens des Ehemanns lag es auf der Hand, dass nicht ohne Weiteres von einem Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG ausgegangen werden durfte. Die Ausländerbehörde hätte die ihr vorliegenden Erkenntnisse zum Anlass nehmen können, eine nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis wegen des Wegfalls des Aufenthaltszwecks (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) zu erwägen. Von einem automatischen Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis durfte sie indes nicht ausgehen.

(2) Wieso die Antragstellerin trotz des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis ein nationales Visum zum Familiennachzug beantragt hat, konnte die Ausländerbehörde der Zustimmungsanfrage vom 28.12.2020 entnehmen. Dort heißt es auf S. 2: "Zweck: Wiedereinreise; "Astin hat Ihre Pass und Aufenthalt verloren. Verlust Bescheinigung liegt vor. Es wird um Mitteilung gebeten, ob Bedenken gegen die Einreise der Antragstellerin bestehen." Später hat die Botschaft der Ausländerbehörde auch den Visumantrag übermittelt, aus dem sich dies ebenfalls ergab. Zudem hatte der Ehemann der Antragstellerin der Ausländerbehörde am 04.02.2021 mitgeteilt, dass er den Aufenthaltstitel der Antragstellerin an sich genommen habe, um deren Wiedereinreise zu verhindern. Es war daher offensichtlich, dass die Antragstellerin den Visumantrag in der fehlerhaften, aber für einen juristischen Laien verständlichen Annahme gestellt hatte, nach dem Verlust des Dokuments mit ihrer Aufenthaltserlaubnis sei für die Rückkehr nach Deutschland ein Visum notwendig. Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 VwVfG und der gleichlautenden Vorschrift des damals geltenden BremVwVfG soll die Behörde die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen und Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Vor diesem Hintergrund wäre es hier offensichtlich geboten gewesen, die Antragstellerin darauf hinzuweisen, dass sie kein Visum benötigt, sondern ihr für die Wiedereinreise nach Deutschland ein neues Dokument über die Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werden kann bzw. ihr eventuell sogar das vom Ehemann einbehaltene Dokument nach Abgabe bei der Ausländerbehörde übermittelt werden kann.

Es ist vollkommen unverständlich, dass die Ausländerbehörde stattdessen das – ihr bekannte – evident rechtswidrige Verhalten des Ehemanns der Antragstellerin im Ergebnis unterstützt und der Antragstellerin ein Dokument über die noch gültige Aufenthaltserlaubnis vorenthalten hat. [...]

e) Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Aufenthaltserlaubnis auch derzeit noch als fortbestehend gelten dürfte (vgl. § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Denn über den rechtzeitig – d.h. vor dem Ablauf der Aufenthaltserlaubnis am 30.09.2022 – gestellten Verlängerungsantrag hat die Ausländerbehörde soweit ersichtlich bis heute nicht entschieden. [...]