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SG Speyer

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Zitieren als:
SG Speyer, Beschluss vom 20.02.2025 - S 15 AY 5/25 ER - asyl.net: M33133
https://www.asyl.net/rsdb/m33133
Leitsatz:

Der Anspruchsausschluss des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG wohl verfassungswidrig: 

1. Der Anspruchsausschluss des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, da selbst das physische Existenzminimum bei dem betroffenen Personenkreis nicht gesichert ist. 

2. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und die Einräumung von Ermessen betreffend die Gewährleistung von existenzsichernden Leistungen in § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG verletzen das Bestimmheitsgebot.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Unzulässigkeit, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Leistungsausschluss,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

2.1 Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG in der seit dem 31.10.2024 geltenden Fassung zwar möglicherweise erfüllt.

2.2 Der Widerspruch des Antragstellers hat aber bereits deshalb eine hohe Erfolgsaussicht, weil der Anspruchsausschluss nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG nach der Rechtsauffassung u.a. der erkennenden Kammer gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG [...] verstößt. Die Verfassungswidrigkeit der Regelung würde in einem Hauptsacheverfahren dazu führen, dass das Gericht insoweit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müsste. [...]

2.3 Das Vorstehende zu Grunde gelegt, verstößt der Anspruchsausschluss des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG in der seit dem 31.10.2024 geltenden Fassung gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG [...].

Die Vorschrift ist zur Überzeugung der Kammer schon deshalb verfassungswidrig, weil nach Ablauf der Überbrückungsleistungen nach § 1 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG selbst das physische Existenzminimum bei dem betroffenen Personenkreis nicht gesichert ist. Die Härtefallregelung des § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG, die die Erbringung solcher Leistungen ermöglicht, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht. Denn diese Regelung besteht auf der Tatbestandsseite aus maximal unbestimmten Rechtsbegriffen ("Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, (…)" bzw. "(…) soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist"). Die Verwendung zu unbestimmter Rechtsbegriffe [...] verstößt gegen die Verpflichtung des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen [...] und diese nicht der Verwaltung und ggf. einem nachfolgenden Gerichtsverfahren zu überlassen. [...]

Mit der Regelung des § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG überlässt der Gesetzgeber die Entscheidung über das "ob" der Leistungserbringung für den vom Anspruchsausschluss betroffenen Personenkreis – neben dem vollständigen Ausschluss soziokultureller Bedarfe – hinsichtlich weiterer Bedarfe des Existenzminimums durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe praktisch im Wesentlichen der Verwaltung und den Gerichten. Zugleich bringt er mit der Schaffung eines vollständigen Leistungsausschlusses mit Ausnahmeregelung deutlich zum Ausdruck, dass der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Regelfall gerade nicht nachgekommen werden soll.

Die Anspruchseinschränkung nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist daher zur Überzeugung der Kammer verfassungswidrig, weil sie ohne genügende Kompensationsmöglichkeit durch einen hinreichend bestimmten, konkreten gesetzlichen Leistungsanspruch bestimmte Gruppen von im verfassungsrechtlichen Sinne hilfebedürftigen Grundrechtsträgern mit tatsächlichem Aufenthalt im Inland von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausschließt. [...]

2.5 Zum gleichen (vorläufigen) Ergebnis würde eine verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG führen, sofern hierdurch sichergestellt werden könnte, dass jede sich in Deutschland tatsächlich aufhaltende Person im Falle ihrer Bedürftigkeit einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen hat.

2.6 Offen bleiben kann vor diesem Hintergrund, ob die Regelung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG auch europarechtswidrig ist [...]. Dies könnte entweder mit einer europarechtskonformen Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG vermieden, durch einen Anwendungsvorrang von EU-Recht durchbrochen oder mittels Vorlageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof geklärt werden. Alle genannten Möglichkeiten würden zur Überzeugung der Kammer jedoch im Ergebnis dazu führen, dass der Leistungsausschluss des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG im Falle des Antragstellers nicht zur Anwendung kommen kann und diesem existenzsichernde Leistungen zu gewähren sind. [...]