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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 23.01.2025 - 2 BvR 5/25 - asyl.net: M33147
https://www.asyl.net/rsdb/m33147
Leitsatz:

Anforderungen an die Auslieferungshaft: 

Die Anordnung bzw. Aufrechterhaltung von Auslieferungshaft erfordert eine Abwägung zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege und eines funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs. So sind in jedem Beschluss über die Anordnung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Haft Ausführungen zu den rechtlichen Voraussetzungen der Haft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. Allein eine hohe Strafandrohung vermag die Annahme der Fluchtgefahr und die Anordnung von Haft nicht zu rechtfertigen.

(Leitsatz der Redaktion)  

Schlagwörter: Auslieferungshaft, Verhältnismäßigkeit,
Normen: IRG § 15 Abs. 1, IRG § 25
Auszüge:

[...]

27 2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. Dezember 2024 und vom 3. Januar 2025 [...] verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, weil sie den an eine Entscheidung über die Anordnung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft zu stellenden Anforderungen an die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe nicht genügen.

28 a) aa) Die Anordnung der Auslieferungshaft und ihre Aufrechterhaltung sind primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu messen. Im Geltungsbereich des Rechts der Europäischen Union hängt die Bestimmung der für deutsche Behörden und Gerichte maßgeblichen Grundrechtsverbürgungen grundsätzlich davon ab, ob die zu entscheidende Rechtsfrage unionsrechtlich vollständig determiniert ist [...]. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die Unionsgrundrechte maßgeblich […]. Dabei greift die Vermutung, dass durch eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt wird, in der Regel mitgewährleistet ist [...]. Ob eine Rechtsfrage vollständig unionsrechtlich determiniert ist, richtet sich in aller Regel nach den Normen, aus denen die Rechtsfolgen für den streitgegenständlichen Fall abzuleiten sind, also danach, ob das streitgegenständliche Rechtsverhältnis und die sich aus ihm konkret ergebenden Rechtsfolgen durch das Unionsrecht oder das nationale Recht festgelegt werden. [...] Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) ist vollständig unionsrechtlich determiniert [...]. Art. 12 RbEuHb, wonach im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist, unterstellt die Frage der Inhaftierung einer betroffenen Person allerdings dem nationalen Recht. [...]

29 bb) Die Anordnung der Auslieferungshaft stellt ebenso wie die Anordnung der Untersuchungshaft einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit dar, der nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann erfolgen darf, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG [...]). Die erforderliche gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Auslieferungshaft bildet § 15 Abs. 1 IRG. Während gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft nur dann angeordnet werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, ermöglicht § 25 IRG eine Außervollzugsetzung eines Auslieferungshaftbefehls, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Gewähr bieten, dass der Zweck der Auslieferungshaft auch durch sie erreicht wird [...].

30 cc) Die Auslieferungshaft ist als Maßnahme der internationalen Rechts- und Amtshilfe Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt [...]. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft sowie bei der Entscheidung über ihren fortdauernden Vollzug ist – wie auch im Rahmen der Untersuchungshaft – stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege und eines funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs zu beachten. Grundsätzlich darf einer Person nur nach einer rechtskräftigen Verurteilung die Freiheit entzogen werden. Der vorherige Entzug der Freiheit ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist [...], nur ausnahmsweise zulässig. Den zur Durchführung der Auslieferung erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss daher der Freiheitsanspruch der betroffenen Person als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt [...].

31 [...] Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich mit den Voraussetzungen für den (fortdauernden) Vollzug der Haft eingehend auseinanderzusetzen und ihre Entscheidungen entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Haft aktuelle Ausführungen zu dem (weiteren) Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten [...].

32 ee) Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein [...].

33 b) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.

34 aa) Es bestehen bereits verfassungsrechtliche Bedenken, ob die Erwägungen, mit denen das Oberlandesgericht die Fluchtgefahr bejaht hat, der verfassungsrechtlich gebotenen Begründungstiefe genügen. Die Ausführungen des Gerichts lassen besorgen, dass es die Fluchtgefahr allein auf die – nicht näher erläuterte – hohe Straferwartung gestützt hat.

35 Die hohe Strafandrohung vermag nach der bisherigen fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur eine Fluchtgefahr indes nicht allein zu belegen [...], sondern kann lediglich Ausgangspunkt der vorzunehmenden intensiven Einzelfallprüfung sein [...]. Zwar hat das Oberlandesgericht in den angegriffenen Beschlüssen ohne nähere Begründung festgehalten, dass die bekannten persönlichen und sozialen Bindungen des Beschwerdeführers nicht ausreichten, um dem Fluchtanreiz verlässlich entgegenzuwirken, und somit im Kontext der Fluchtgefahr nicht nur die Straferwartung angeführt. Dennoch erscheint es zweifelhaft, ob das Gericht der gebotenen Begründungstiefe insoweit genügt hat.

36 bb) Jedenfalls erreicht die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe. Das Oberlandesgericht stellt in dem Beschluss vom 17. Dezember 2024 nach den Ausführungen zur Fluchtgefahr lediglich pauschal fest, dass mildere Maßnahmen, um die Anwesenheit des Beschwerdeführers im Auslieferungsverfahren sicherzustellen, nicht ersichtlich seien. In dem Beschluss vom 3. Januar 2025 wird ohne weitere Ausführungen festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die voraussichtlich empfindlich hohe Straferwartung im Falle einer Verurteilung sowie "die Gesamtwürdigung seiner konkreten Lebensumstände" mit seinen Anträgen nicht durchzudringen vermöge und dass das Gericht zu seinem Gesundheitszustand bereits Stellung bezogen habe. Allerdings ist der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers im Beschluss vom 17. Dezember 2024 unter dem Gesichtspunkt eines möglichen Bewilligungshindernisses für eine spätere Überstellung, nicht hingegen im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft, etwa mit Blick auf die von ihm vorgetragene besondere Haftempfindlichkeit, angesprochen worden.

37 Eine verfassungsrechtlich notwendige Abwägungsentscheidung des Gerichts, die erkennen lässt, dass es sich unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, hier etwa der Art, des Umfangs, der Stetigkeit und Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im ersuchten Staat sowie der sozialen, familiären und persönlichen Bindungen [...], ernstlich mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung auseinandergesetzt hat, fehlt in den angegriffenen Beschlüssen. Gleiches gilt für die  Offenlegung der Gesichtspunkte, die das Gericht als maßgeblich erachtet hat, um ein Überwiegen des Interesses, die Durchführung des Auslieferungsverfahrens und der Auslieferung zu sichern, gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen zu rechtfertigen. Auch eine nachvollziehbare Prüfung weniger einschneidender Maßnahmen – etwa die Aussetzung des Vollzugs des Auslieferungshaftbefehls unter Auflagen – unterbleibt. Die Ausführungen des Gerichts hierzu erschöpfen sich vielmehr in der pauschalen Wendung, mildere Maßnahmen erschlössen sich dem Senat gegenwärtig nicht. [...]